(der originalle Beitrag von Emil Mendyk ist auf polnisch).
In den letzten Wochen haben mich zwei Bücher zurück ins Jahr 1913 geführt.
Zuerst „Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudiš: Auf Deutsch geschrieben von meinem gleichältrigen, auf der anderen Seite der Gebirge im tschechischen Turnov geborenen Autor, eine Erzählung über Herrn Winterberg, den letzten Straßenbahnfahrer in West-Berlin, der seine Tage erlebt. Geboren im Oktober 1918 in Reichenberg, ebenfalls im nahen Liberec, ist er ein Zeitgenosse der Tschechoslowakei und gleichzeitig des ersten österreichisch-ungarischen Friedhofskrematoriums, das von seinem Vater in der Nähe von Ješted (natürlich damals Jeschken) betrieben wurde. Bei seiner Traum-Eisenbahnfahrt nach Sarajevo auf den Spuren seiner Jugendliebe wird er von dem nach 1968 aus der Tschechoslowakei geflüchteten Erzähler begleitet, für den diese Reise (eine außergewöhnliche Sache bei seiner Arbeit als Betreuer deutscher Senioren) zum Spiegel wird, zu einer Beichte, vor allem aber zum puren Wahnsinn. Der Führer auf der Reise ist ein roter Reiseführer in der austro-ungarischen Monarchie, erschienen 1913, »als die Welt noch in Ordung war" wie Winterberg betonte. – Und diese Normalität führte zum Ersten Weltkrieg. Wirklich schöne Normalität. Der ausgetretene Band führt durch eine "beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins,, wie es ein Engländer zu sagen pflegte, den Winterberg traf. »Er verstand es, historisch zu schauen«.
Das zweite der Bücher unter dem Weihnachtsbaum, ist „Empuzjon“ von Olga Tokarczuk. Die Handlung spielt im Herbst 1913 in einem Tuberkulose-Sanatorium in Görbersdorf (wenn ihr auf der Karte nach Sokołowsko sucht, wo – später? einst? die Zeit spielt keine Rolle – Krzysztof Kieślowski verbrachte dort seine Kindheit). Wie ein lebendiger niederschlesischer „Zauberberg“, in dem aber die Hauptfigur nicht ein junger Ingenieur ist, der aus Hamburg nach Davos kommt, sondern aus Lemberg und unter dem Namen Mieczysław Wojnicz; Doktor Settembrini heißt hier Semperweiß (oh, die im Namen verborgene ewige Allwissenheit und makellose Weiße der Ärzteschaft!), und die ganze Menagerie menschlicher Einstellungen und Temperamente versteckt sich unter der sterilen Hülle von Sanatoriumsritualen und Erwartung auf "einem Platz der sich befreit" im Kurhaupthaus. In der Welt von „Ordnung und Pünktlichkeit, Professionalität und Ruhe“, wo „die Menschen ihre Leiden ernst nahmen, aber versuchten, normal zu leben“, brach das Unerwartete auf dem Dachboden ein: die Frau des Pensionsinhabers, Herrn Opitz, wurde erhängt auf dem Dachboden gefunden. "Sie hatte niemanden hier, sie war aus Tschechien." Beide Bücher sind vor nicht allzu langer Zeit entstanden, zu einer Zeit, als man hier und da die „gute alte Zeit“ des frühen 20. Jahrhunderts herbeisehnte. Weil es früher besser war. Und diese Bilder von Franz Josef in den Kneipen von Prag, Przemyśl oder Maribor – seltener aber in Salzburg oder Graz. Und Alben von fast allen niederschlesischen oder pommerschen Städten "auf alten Photographien". Und "Es war einmal..." in den Titeln auf Buchumschlägen, die im Schaufenster der "Schlesischen Schatztruhe" in Görlitz verblassen. Und die Fahnen des Kaisers auf den Scheunen der kürzlich dezimierten "Reichsbürger", unter denen sich Prinz von Reuss von Thüringen als der Anführer herausstellte (hinter dem Wald, im ehemaligen Palast dieser Familie in Staniszów, wehte keine Fahne, und im frisch gezapften Ausguss der Likörfabrik Dzida und Söhne, noch stärker spürt man der Geschmack von Enzian). „Als ich als Ratspräsident durch Europa reiste, hatten viele Hauptstädte das Gefühl, auf ein neues Sarajevo zu warten“, schrieb Donald Tusk vor einigen Jahren. So ist uns ein Sarajevo passiert. Und die Sorge der Kneipenbesitzer in Lemberg oder Drohobytsch ist nicht mehr allein ein beflecktes Bild des Herrn...
Ich gebe zu, dass ich Mitte Dezember 2021erblaste, als die Nachricht vom „Ultimatum“ aus der frostigen Wolga kam. Dieses Wort klang schon im Sommer 1914 sehr schlecht. Und es klang jetzt noch schlimmer, weil es bedeutete, dass die Menschen, die über unser Schicksal entscheiden, den Willen aufgeben, zu reden, zu diskutieren, sogar zu streiten oder diplomatisches und wirtschaftliches Schach zu führen; Sie geben die Vernunft zugunsten einer dumpfen, atavistischen Kraft und des Schlagens mit einem immer besseren Schläger auf. Dinge, in denen sich kleinwüchsige Jungs mit Kindheitskomplexen und Traumata seit Jahrhunderten hervorgetan haben: einsame Feiglinge, die in Bunkern oder gar umzäunten Villen sitzen, die am liebsten mit fremden Händen kämpfen, Frauen, Kindern und Kranken ohne Schutz.
Eltern, passt auf eure Kinder auf, gebt ihnen Wärme und redet mit ihnen, damit in ein paar Jahrzehnten nicht jetzt jemand unter eurem Zeitmangel leiden muss. Und abends "Das weiße Band" von Haneke anschauen. Politiker sollten sich grundsätzlich regelmäßig in einem Arbeitsmedizinischen Zentrum untersuchen lassen. Wie Lehrer oder Fahrer. Um Empathie, Gesprächsbereitschaft, Verständnis- und Unterscheidungsvermögen und dergleichen zu testen. Vielleicht ist es ein Kieselstein im entstehenden Mosaik einer neuen Welt. Ein anderes Modell der Repräsentation und Entscheidungsfindung. Diese Zeichen des Weltuntergangs, die wir bisher kannten, waren und sind in letzter Zeit genug. Es reicht aus, irgendein Informationsportal zu öffnen und den Nachrichten zu folgen, die von den Algorithmen des "Wahrheitsministeriums" für jeden von uns separat dosiert werden, wo sich künstliche Intelligenz mit völlig natürlicher Dummheit vermischt. Im September, nach 70 Jahren (was für eine symbolische Zahl an Fülle und Perfektion!) auf dem Thron, schloss die Königin eines Imperiums ihre Augen, über dem die Sonne noch untergehen kann. Nur wenige Tage zuvor übergab JKM Elisabeth Frau Liz (an die sich heute kaum noch jemand erinnert) die Macht. Die Euphorie nach dem dritten Elfmeter von Herrn Messi und seinen Gefährten ist noch nicht verklungen, und die katarrhalische Welt trauert um den König, den Kaiser, ba! Imperator Edson Arantes do Nascimento; Sein Spitzname Pele ist sogar denen bekannt, die nicht wissen, dass es zwei Tore gibt und der Ball rund ist.
Um diese Zeichen des Endes einer bestimmten Zeit zu vervollständigen, starb am letzten Tag des Jahres 2022 der Papst in Rente Benedikt XVI. in der für ihn so typischen Stille, in einer konsequenten Entscheidung zu gehen, zu verschwinden, in der Notwendigkeit, sich zu verkleinern. Ohne ein „Santo subito!“, ohne Applaus, wo die unter anderen Umständen offensichtliche Eilmeldung auf der Timeline der Nachrichten von der Information bedeckt wurden, dass die Bewohner des Kiribati-Archipels als erste der Welt das neue Jahr begrüßten und die Thermometer in Warschau 18,7 Grad anzeigten. Am ersten Tag des neuen Jahres tauchten im Radio die Nachrichten aus dem Vatikan weniger als beiläufig auf. Gebt die Hoffnung auf, dass eine weinende Menge den Münchner Dom bis zum schwarzen Grabmal von Kaiser Ludwig von Bayern und seiner Frau Anna, Piastin von Głogów, füllte. Dass ihn doch die älteste Brauerei der Welt in Freising mit einem neuen, dunklen Weihenstephaner ehren wird. „Mein Herz schlägt bayerisch“ – sagte er lächelnd, als er sich in weißer Soutane zu seinem Ländle aufmachte. Die Neujahrsausgaben deutscher und österreichischer Zeitungen erzählen vom Abschied der Welt vom verstorbenen Papst, anstatt sich mit diesem Abschied und der eigenen Trauer auseinanderzusetzen. Und vor einiger Zeit, am Tag nach dem Konklave 2005, verkündete die Bild-Zeitung triumphierend "Wir sind Papst!" Wenn wir davon ausgehen, dass Volkszeitungen wirklich die Vox Populi sind, ist es bezeichnend, dass die Neujahrsausgabe der Tageszeitung berichtet, dass zwischen 10.46 und 10.48 Uhr ein ungewöhnlich bunter Regenbogen über Marktl am Inn, der Heimatstadt der Ratzingers, zu sehen war - wie zur Todesstunde von Queen Elizabeth über dem Buckingham Palace im September. Ein ganz anderer Regenbogen leuchtete in der Silvesternacht in der Tatra wie ein Traum, aber das ist ein Thema für eine ganz andere, wenn auch an Dekadenz grenzende Geschichte. In der Zwischenzeit "Es lebe Zenek, Zenek und die Freiheit!".
Und auch wenn der im Wappen des verstorbenen Bischofs von Rom und früher von Freising und München sichtbare „Neger von Freising“ auf einen angeblich als einen der letzten Päpste angekündigten schwarzen Papst hindeuten würde, sehe ich dort auch eine Jakobsmuschel . Was uns daran erinnert, dass wir alle unterwegs sind. Und das Ende einer Reise ist auch der Beginn einer neuen Reise. Vielleicht sogar noch interessanter. Und dass das Ende, finis terrae, nur scheinbar ist, weil jenseits des großen Wassers eine (irgendwie) neue Welt beginnt. Wie auch immer diese neue Straße und der Boden, der aus der erstarrten Lava nach dem Ausbruch geformt werden würde, aussehen würden, lass es eine gute, kreative Zeit sein. Nutzen wir es gut und wiederholen wir nicht die Fehler der Vergangenheit. Oder machen wir realistischerweise weniger daraus. Ich wünsche euch allen viel Gutes. Und mögen wir so gesund sein! Und natürlich fügen wir den Wünschen ein Lied hinzu.
Emil Mendyk ist Philosoph, Übersetzer und Fremdenführer, hauptsächlich im Riesengebirge. Er beschreibt sich selbst so:
"Ich bin ein Pilger und ein williger Wanderer in den Bergen." Ich selbst mag dieses Nietzsche-Zitat; und ich lese generell gerne, und manchmal übersetze ich etwas für mich und für andere - um nicht zu sagen: ich werde übersetzen. Und wenn ich mich auf den Weg mache, dann als Pilger (besonders auf dem Jakobsweg) oder als niedrigwüchsiger Hochländer aus dem Iser-Karkonosze-Gebirge. Ich bewege mich als Reiseleiter zwischen Oder und Elbe, verachte aber auch die Alpenländer nicht, unter denen ich besonders das ausgeglichene und abgeschiedene Slowenien schätze – deshalb habe ich auch die Qualifikation als turistični vodič für Primorsko. Wir sehen uns auf dem Weg! Buen Camino!"
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