Die Auseinandersetzung mit dem Werk von Juliusz Słowacki, der sich wie ein Prophet in einer turbulenten Zeit bewegte, zeigt mir einmal mehr die Bedeutung des platonischen Erbes und der platonischen Philosophie, die an jedem geschichtlichen Wendepunkt wie ein Leitfaden zur Bewältigung politischer Krisen erscheint.
In seinem Meilensteinwerk, woran er sein ganzes Leben lang schrieb und das unvollendet blieb, "König Geist", berührt Słowacki die platonische Idee der Unsterblichkeit der Seele. Am Ende von „Politeia“ (Der Staat) wird die Geschichte von Er Armenios erzählt. Es ist eine Geschichte von der Reinkarnation der Seele und wie Menschen, die nach Weisheit und Gerechtigkeit strebten, ihr eigenes Schicksal und das der gesamten Menschheit in ihren Händen tragen.
Die platonischen Schriften haben im Laufe der Jahrtausende viele Völker inspiriert – nicht nur in Europa, sondern auch in der islamischen Welt. Sie sind bestimmt auch für die Blüte der Renaissance, den Humanismus, die Aufklärung verantwortlich.
Ich persönlich liebe es, die Dialoge des Sokrates mit den Griechen regelmäßig zu lesen, weil ihre Lektüre immer mit einem starken Gefühl der Wahrheit verbunden ist, in diesem bestimmten Moment wo Sokrates seine Gesprächspartner etwas erklären versucht, meistens geschieht das in der zweite Hälfte des Dialogs.
Einen dieser Momente erlebte ich am Ende des Dialogs „Politikos“ (Der Staatsmann).
Ich bin überzeugt, dass dieses Werk eine wichtige Botschaft für unsere Zeit enthält.
Wir erleben derzeit eine immer tiefere soziale und politische Spaltung in Europa, und die Kluft wächst jeden Tag langsam, ohne dass sich jemand darum bemüht, sie zu überbrücken.
Aber ich habe in meinem vorherigen Beitrag erklärt, wie wichtig es für uns Europäer in schwierigen Zeiten ist, alle Differenzen zu überwinden und uns um das wesentliche Ziel zu vereinen, was uns verbindet und was ich im vorherigen Beitrag den „Schatz Europas“ genannt habe.
In dem Dialog "Politikos" beschäftigt sich Platon mit dem gesellschaftlichen Frieden, der die wichtigste Aufgabe eines Politikers sein sollte. Er vergleicht den friedlichen Zustand der Gesellschaft mit einem Stoff, dessen Fäden perfekt miteinander (orizontal und vertikal) verwoben sind. Er nennt auch die zwei „Typen“ von Bürgern, die es in einer Gesellschaft wahrscheinlich immer gegeben hat. Er nennt sie die „Tapfere“ und die „Besonnene“. Diese beiden Typen können jeweils auf unterschiedliche Weise interpretiert werden, zum Beispiel sehe ich unter „tapfer“ die progressive politische Mächte, die neue Errungenschaften in der Gesellschaft erreichen wollen. Im Gegenteil, „besonnen“ wären die konservativen Kräfte, die das, was wir bereits haben, schützen und erhalten wollen.
Es ist mir völlig klar, dass eine friedliche Gesellschaft beide Typen braucht. Die eine, um aus dem Neuen etwas Gutes zu schaffen, die andere, um aus dem Alten etwas Gutes zu bewahren.
Aber das Revolutionäre am platonischen Text ist die Erkenntnis, dass diese beiden Tendenzen nicht nur gut sind, sondern zusammenarbeiten müssen, damit sich eine Gesellschaft friedlich entwickeln kann. Diese Zusammenarbeit zu gewährleisten, ist die Aufgabe eines guten Staatsmannes.
Ich denke, diese Botschaft ist für unsere Zeit von grundlegender Bedeutung. Die Vergangenheit lehrt uns, dass der Hass zwischen Linken und Rechten, Sozialisten und Nationalisten, Konservativen und Progressiven Quelle von Gewalt, Krieg, Bürgerkrieg und Katastrophen sein kann. Die Wunden dieser Kriege können tief sein, und wenn sie nicht richtig geheilt werden, kann der Hass immer wieder aufflammen. Der Frieden in einer Gesellschaft kann sehr fragil sein, insbesondere wenn die Geschichte nicht richtig verarbeitet wurde, in einer Weise wie ein liebender Arzt eine Krankheit heilen kann.
Nun bringt unsere Zeit auch eine tiefe Spaltung zwischen beiden Typen mit sich, und die ersten Anzeichen von Gewalt, die politische Verfolgung und Ausgrenzung der Gegner, die Radikalisierung beider Lager, die immer schwieriger werdende Auseinandersetzung und Diskussion zwischen ihnen drohen zu eskalieren.
Der Krieg, der plötzlich in mehreren Ecken der Welt ausbrach, ist eine natürliche Folge dieser Diskussionsunfähigkeit zwischen den beiden Lagern.
Aber es ist noch nicht zu spät.
Ich dränge darauf, dass die Parteien in jedem Land, in dem es eine Demokratie gibt, ihre Konflikte überwinden und sich für Gespräche in gegenseitigem Respekt öffnen. Sie sollten ihre Positionen nicht aufgeben, aber sie sollten den Positionen des Gegners zuhören, sie respektieren und sie nicht behindern. Schließlich gibt es auf dieser Erde genügend Platz, um allen Positionen eine Chance zu geben, sich zu verwirklichen, denn jede Position ist dazu da, bestimmte Probleme zu lösen.
So wie die Fäden in einem Stoff miteinander verwoben sind, so sollten zwei gegensätzliche politische Richtungen zusammenarbeiten, dann kommt Frieden und Fortschritt in eine Gesellschaft.
Hier der letzte Abschnitt dieses Dialoges, übersetzt von Dr. Wilhelm Nestle (Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1941):
"... Fremder: Darin also, sagen wir, bestehe die Vollendung des Gewebes der praktischen Staatskunst, daß in richtiger Verflechtung die Sinnesart der tapferen und der besonnenen Menschen verflochten werde, indem es der königlichen Kunst gelingt, sie zu einem gemeinsamen Leben in Eintracht und Freunschaft zusammenzuführen und so das großartigste und beste aller Gewebe zu vollenden: ein Geflecht, in dem sie auch alle die sonstigen Menschen in den Staaten, Freie und Sklaven, zusammenfaßt, so daß sie, ohne etwas beiseite zu lassen, was zu dem einem Staatswesen zukommenden Glück beitragen kann, herrscht und regiert.
Sokrates der Junge: Vortreflich, Fremdling, hast du uns nun auch den königlichen Staatsmann dargestellt."
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