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AutorenbildEleni Ioannidou

Die humanistische Aufgabe Künstler zu "schützen"

Aktualisiert: 28. Dez. 2022

Es war während der Proben für „Parisina“ in der Mailänder Scala, als mir zum ersten Mal aufgefallen ist, das etwas in der Theaterwelt nicht stimmt. Der Dirigent und der Korrepetitor unterhielten sich über eine Sängerin die "verschwunden" sei. Dirigent: "Erinnerst du dich an K.? Sie war fantastisch, wir machten zusammen die Oper "..." Was ist aus ihr geworden?" Korrepetitor: "Ja, natürlich erinnere ich mich an sie. Ich weiss wirklich nicht." Dirigent: - (Ende der Diskussion und die Probe beginnt als wäre nichts passiert).

Es sind mehr als 15 Jahre vergangen, aber diese kurze Szene hat mich so beeindruckt, dass sie mich bis heute prägt.

Später traf ich in einem Vorsingen in Bonn Eteri Gvazava, und fragte mich wieso die großartige Sängerin, die wir alle über die schöne Verfilmung der "Traviata" mit Zubin Mehta und José Cura kennengelernt haben, ein Vorsingen in einem kleinen deutschen Theater macht? Zu meinem Erstaunen wurde sie für die Rolle sogar nicht ausgewählt. Wenn man heute auf Operabase schaut, ist ihre letzte Produktion vom Jahr 2011: eine Konzertante "Don-Giovanni"-Aufführung in Linz. Seitdem keine Spur. Damals habe ich ein bisschen über ihr Schicksal recherchiert und fand die Nachricht, dass sie Yoga-Kurse gab. Die Nachricht finde ich heute nicht mehr. Die Sopranistin mit dem melancholischen Timbre und der herrlicher Gesangskunst, ist einfach verschwunden.

Um dieselbe Zeit kursierte eine andere Nachricht. Valery Gergiev hatte sich entschlossen, die Sopranistin Galina Gorchakova, mit der er so viele und schöne Produktionen gemacht hat (allein die "Forza del Destino") ihre Karriere zu behindern. Sie ist in Ungnade bei dem "Herrscher" der damaligen Opernbühnen gefallen. Hier dokumentiert Tamino diese Affäre. Auf Operabase findet man die letzte Aufführung der großartigen Sopranistin im Jahr 2005. Auch sie ist seitdem verschwunden.



Drei Beispiele genügen, um das Klima einer nicht gerade menschenfreundlichen Umgebung zu beschreiben. Wenn ich über das Thema der Sänger spreche, die mit Hoffnung in den Theaterbetrieb kommen, ausgequetscht und weggeworfen werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, oder für die eigennützigen Interessen von Regisseuren, Agenten oder Theatermanagern verwendet werden, die sie dann verschwinden lassen, die Antwort, die ich oft bekomme, ist: "Aber die Theaterwelt war schon immer so oder schlimmer". Intrigen, Kämpfe um die erste Rolle, Schadenfreude, wenn ein Kollege oder Dirigent in Ungnade fällt: Gibt es das nicht schon seit dem 18. Jahrhundert?

Und wenn dem so wäre, wie kann man das aus heutiger Sicht des 21. Jahrhunderts nach Aufklärung, Revolutionen und humanistischen Ausbildung für alle, noch so hinnehmen, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt? Der Künstler ist schliesslich ein Mensch, ein Träger von blühendem Potenzial, Lehrer von Werten und ein Medium von Idealen der Musik und Literatur. Man darf ihn nicht wie einen Wurm behandeln, wo auch einen Wurm darf man nicht so behandeln. Viel zu lange haben wir den Mangel an Humanismus in unserer Gesellschaft mit der Ausrede „Die Welt war schon immer so und wird immer so sein“ mit Gleichgültigkeit betrachtet. Die Welt war vielleicht schon immer so, aber sie hat die Chance und sogar die Pflicht, besser zu werden. Die Situation in der heutigen Theaterwelt, die ich gleich beschreiben werde, ist ein Spiegel der Gesellschaft im Allgemeinen. Der Mangel an Solidarität unter Kollegen ist unter Musikern ebenso grausam wie unter Ärzten oder Lehrern. Aber das Ergebnis des Mangels an Solidarität in einer Branche, die für das Wohl der menschlichen Gemeinschaft dringend benötigt wird, hat zum Ergebnis, dass die letztere nicht mehr gut funktioniert. Wenn einige Ärzte laut sagen „Aber der hippokratische Eid soll unser erstes Motto sein“ und andere sie darin nicht unterstützen, dann wird aus der Medizin, die den Menschen Heilung und Gesundheit bringen sollte, ein Beruf der Leid bringt. Wir verlieren langsam alles, was heilig war. Es geht nicht um Religion wenn ich "heilig" schreibe. Manche Elemente unseres Lebens müssen "heilig" bleiben, sonst stürzt unser Leben im Abgrund. Der Respekt vor dem Leben und dem Menschen zum Beispiel, muss heilig bleiben, wenn wir weiter glücklich leben wollen. Dasselbe gilt für Bildung und Schulen, also das Heiligtum der menschlichen Kultur.

Und nun die Welt des Theaters, dort wo sich unsere Welt spiegeln soll, wo der Zuschauer seine Katharsis bekommt und Inspiration für sein Leben findet. Auch diese Welt hat ihr Heiligtum, ich wiederhole es zum hundertsten Male: Ursprünglich war das Theater der Tempel des Gottes Dionysos, der mit anderen Tempeln an jedem heiligen Ort zu finden war. Es geht um hohe spirituelle Ideale, die die Menschen besser machen sollen.


Ich lese gerade zwei Bücher über das Wesen der italienischen Operntruppen im 18. Jahrhundert. Der berühmte Briefwechsel der Sängerin Marianne Pirker mit ihrem Mann Franz und anderen Kollegen während ihrer Reisen mit der Mingotti-Compagnia durch Europa (Daniel Brandenburg, Wien 2021) und die Kurzbiographie der Brüder Angelo und Pietro Mingotti von Erich Müller (Dresden, 1917). Ich nahm an, dass Künstler, die großartige Texte von Metastasio aufführten, von diesen Idealen inspiriert waren. Ich war davon überzeugt, dass die Reisen der Operntruppen durch Europa – von St. Petersburg bis Edinburgh – einer der Gründe für die Verbreitung aufklärerischer Ideen und sozialer Reformen in Europa waren. Vielleicht war es so. Aber das finde ich in Mariannes Briefen nicht. Das sind Briefe über Geld und Schadenfreude über Kollegen die nicht weit kommen, Anfragen für Empfehlungen an Adeligen, damit sie die Rolle bekommt und keine andere. Diese Künstler standen auf der Bühne und sprachen von Helden und tugendhaften Heldinnen, aber in ihrem Leben waren sie das nicht. Diese Briefe drehen sich nicht um Fragen wie "wie bekomme ich diese Idee am besten auf der Bühne ausgedruckt" oder "dieses Stück müssen wir dort spielen, um die Idee an die Menschen zu verbreiten"...

Ich vermute sogar, dass die Künstler, die im Geschäft erfolgreich waren, alles getan haben, um die tugendhaftesten Kollegen aus dem Geschäft fern zu halten. Diese Zweiten waren vielleicht zu bescheiden und friedlich, um damit fertig zu werden und akzeptierten ihr Los ohne sich zu beschweren. So verschwanden sie nach und nach. War das nicht irgendwie auch das Schicksal von Mozart?


Eine ähnliche Geschichte habe ich in der Biografie der Mingotti-Brüder entdeckt: Der Impresario kommt 1747 nach Kopenhagen, wo Johann Adolf Scheibe als Kapellmeister wirkte. Der Leipziger Komponist war damals einer der ersten, der sich für die Förderung der deutschen Oper und deutscher Komponisten engagierte. Er hielt Bach und Händel für die Spitzenkomponisten seiner Zeit und fand die Allmacht der italienischen Oper beklemmend. Mit der Ankunft der Mingotti in Dänemark fiel er in Ungnade bei der dänischen Aristokratie - die die Italienische Oper liebte - und verschwand. Der Komponist der Mingotti-Operntruppe, Paolo Scalabrini, übernahm und komponierte, hauptsächlich unter Verwendung von Arien aus anderen Opern. Scheibe arbeitete weiterhin als Musikkritiker, übersetzte zwischen Deutsch und Dänisch und wurde zum Musiklehrer. Heute finden wir keine Opern von ihm, obwohl er als einer der bedeutendsten dänischen Barockkomponisten gilt und seine Musik äußerst schön und bedeutend ist (einfach YouTube googeln). Ein weiterer Fall von „verschwundenem“ Künstlerpotential und eine verpasste Chance für die Menschheit.


Humanist zu sein bedeutet für mich, Menschen als perfekte, schöne Wesen zu sehen. Wesen mit einem göttlichen Potenzial, die zu wunderbaren Taten fähig sind und Schönheit in die Welt bringen. Der Mensch ist ursprünglich nicht geld- und erfolgsgierig, unsolidarisch, eitel und schadenfroh. Mit der richtigen Anleitung - was ich Mentoring nenne - genau wie ein guter Gärtner, der einen Baum schön pflegt - kann ein Mensch köstliche Früchte geben und uns alle "ernähren". Voraussetzung ist, dass man seine Talente an ihm wertschätzt, pflegt, ihnen den Weg zum Ausdruck ebnet und ihm niemals wirklich schaden oder ihn verschwinden lässt, nur weil andere „Favoriten“ an seine Stelle gesetzt werden sollen.


Es gibt einen Platz auf dieser Erde für jeden Menschen, einschließlich jedes Künstlers. In einer gerechten Welt wird niemand hungern. Aber wenn wir diese Welt nicht so kultivieren, dass sie wirklich gerecht und natürlich ist, um jedem von uns seinen wahren Platz zu geben, werden wir alle weiterhin mit Leid und Hunger kämpfen. Der Zusammenhalt mit den Kollegen ist schließlich auch für uns von Vorteil. Es ist meiner Meinung nach auch die Aufgabe eines jeden Theatermenschen, dafür zu sorgen, dass die Welt natürlich, menschenfreundlich und fair ist, damit jeder von uns darin SEINEN PLATZ finden kann. Auch ich als Künstlerin möchte mich dieser Aufgabe widmen und jedem Kollegen, dem ich begegne, Möglichkeiten geben, sein Talent auszuleben. Es mag seltsam klingen, aber selbst wenn ich eine Künstlerin treffe, die die gleiche Rolle wie ich singt, ist es nicht edler zu denken „lass mich von ihr lernen“ statt „ich brauche die Rolle, also hindere ich sie“?


Aber wenn ich merke, dass ein charismatischer Künstler es aufgrund von Bescheidenheit, oder was auch immer - es schwerer hat und es nicht schafft, in einer ungerechten Welt zu glänzen, für den engagiere ich mich noch mehr, mach´ich ihm noch mehr Mut, ebne ich ihm noch mehr den Weg. Das Licht muss an die Oberfläche gelangen. Es muss ein Schluss mit dem Verschwinden von "Gvazavas und Gorchakovas" sein, und kein Komponist wie Scheibe darf einfach so ignoriert werden. Mit meiner bescheidenen Wirkung möchte ich ein Zeichen in dieser Richtung setzten. Wenn das den erhofften Erfolg hat, wäre es gut sogar, andere Kollegen dazu zu inspirieren ebenso in dieser Richtung zu agieren und ihre Kollegen weiterzuhelfen. Solidarisch sein, als wären wir eine große Familie.

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eleniioannidou
Dec 28, 2022

Leslie Howard war so ein Künstler. Er war verantwortlich für den Aufbruch der Karriere von Humphrey Bogart, den er während der Dreharbeiten des Filmes "Stand-in" entdeckte und sich mit Kraft eingesetzt hat, damit er in "The petrified Forest" mit ihm spielen kann. So verdankt Bogart dem unvergleichbaren Howard seinen Beginn. Er nannte sogar seine Tocher nach Leslie Howard, um ihn zu ehren. Im 2.Weltkrieg hat Leslie Howard, der inzwischen sich auch in Regie und Produktion betätigte, Propagandafilmen gegen das Nazi-Regime und für die Alliierten produziert und darin aufgetreten. Im Jahr 1943 wurde das Flugzeug in dem er flog von den Deutschen abgeschlossen. Er war 50 Jahre alt. Legende...

The "Petrified Forest" https://vimeo.com/151537272

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