Ein Essay mit Zitate aus dem Oeuvre des Dichters Peter Gehrisch.
Gastbeitrag von Urszula Benka. Aus dem Polnischen von Gabriele Wachander.
Der schwere Fluss versinkt – so beginnt das Gedicht „Isolation“ des Dresdener Schriftstellers, Lyrikers, Romanciers, Übersetzers und Historikers Peter Gehrisch, das ein Miniatur-Mitteleuropa, ja, ein Syndrom, das „Mitteleuropa-Syndrom“, zum Leben erweckt und mit dem zahlreiche östliche Nationen die Deutschen stigmatisiert haben, indem sie ihnen die Hauptverantwortung für geistige und wirtschaftliche Begrenzungen zuschrieben sowie für die Art und Weise, wie (erfolgreich oder nicht) Barrieren überschritten werden.
Um es gleich vorweg zu sagen: Mit diesem scheinbar farblosen Begriff hat Milan Kundera, der tschechische Dissident, die Büchse der Pandora geöffnet. Mitteleuropa hat keine Grenzen. Heute bedeutet das eigentlich „etwas“, was mythologisch einen Nerv impliziert, obwohl unterschiedlich auf dem jeweiligen Gebiet, versteht man einen Mythos für sich selbst, seine Brauchbarkeit – und auch konkrete Narrative sind hier unterschiedlich. Nicht selten, sich gegenseitig widersprechend. Außerdem sind dies die Länder, in denen es spukt. Von den Vogesen bis zur Weichsel oder vielleicht dem Bug, oder vielleicht der Newa und dem Don, schwer zu erraten, vom Marmarameer bis zur Ostsee. Denn weder der romantische Nationalismus noch der Mythos in seinen rätselhaften Mutationen, eingesaugt vom Alptraum der Totalitarismen, die hier herrschten, noch die Analyse der Psyche und... die Rebellion im Schoße der Psychoanalyse, können auf diesem Gebiet vermieden werden.
Peter Gehrisch hat in der Tat auf einen Mythos zurückgegriffen – angeblich den ältesten, angeblich wahrscheinlich paläolithischen – den Orpheus-Mythos. Und wer Orpheus war, was Orpheus bedeutet, weiß jeder – und niemand weiß es. Gerade deshalb war die Essenz dieser Animation, ein absurdes Gedicht aus Worten, Musik, Groteske zu empfinden, und auch aus Schuld, ein Gedicht, das in seinen Worten wie Glaskugeln zerspringt (so formuliert zumindest einer der Orpheus-Projektteilnehmer, Gert Neumann, sein eigenes Motto). Dieses Treffen fand genau am Treffpunkt der Jahrtausende statt, und zu allem Überfluss in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze (wir befanden uns noch nicht im Schengen-Raum) . Ein Gefühl der Schuld? – Ein anderer Zeitzeuge, Thomas Bernhard, verbot die Veröffentlichung und Aufführung seiner Werke in Österreich bis 2059, da sich die österreichische Öffentlichkeit nur als Opfer des Nationalsozialismus sieht und eine Entnazifizierung ablehnt.
Der Mythos muss diese Fäden gezogen haben. Mit jedem seiner „Themen“ bringt uns jener Mythos zurück zum Konkreten, zum Realen, zur Erde, wie wir sie erlebt haben, auch von Seiten ihrer geistigen Nebel, Mumien, Zwänge, Bedingungen, die höchst unterschiedlich, aber immer konkret von jenen verarbeitet wurden, die uns in die Welt gerufen haben. Die uns beschützt haben – aber vor etwas Konkretem, das eine eigene konkrete Verwirrung in unsere Köpfe brachte. Diese wahnsinnig vorausschauende Szene bricht zusammen und hebt sich im Laufe der Zeit, manchmal sogar augenblicklich. Doch jede Kontrolle, jeder gewollte Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, endet in der Verdrängung.
Der Mythos muss diese Akkorde angeschlagen haben, und sei es nur, weil jeder von uns, den Teilnehmern des Orpheus-Projektes im weitesten Sinne, gerade erst, um ehrlich zu sein, eine solche Übertragung der Orpheus-Figur aus der mit Rilke, Miłosz, Kołakowski, Graves und Grimal geschmückten Bibliothek auf unser eigenes Ich projiziert hat, was einen Abstieg in die Gefilde der Hölle impliziert, einen Abstieg, der, gelinde gesagt, entleert ist, eine Rückkehr ohne die in Eurydike verkörperte Seele. Wir haben das Recht, in Orpheus die Tragödie des seelenlosen Künstlertums und der Menschlichkeit ohne Kontakt zum tiefsten Selbst zu erkennen, das Drama des begabten Kindes – um Alice Millers berühmten Ausdruck zu verwenden; wir sehen solche Orpheus-Gestalten in Rilke, Miłosz und so weiter. Die meisten von uns, so vermute ich, haben diese Figur in einem noch vorläufigen Selbst ruhen lassen und weigern sich vorerst, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis zuzulassen, von Orpheus vernarbt, beschmutzt, befleckt und in die Bereiche der Schweinischen gezogen zu werden – und dass Orpheus’ Gesang wirklich wie die Schuppen eines Reptils glänzen kann: einer Eidechse, einer Viper oder vielleicht eines prähistorischen Tyrannosauriers. In der
Kammer der Atzung –
Im Schmalz der dein Körpergebilde groß werden läßt
Du weißt nichts von Totholz
Dein Eden heißt Moder, Mikroben
Gewebe, in welchem sich dieses Leben erhält
Schwelgend
Wenn ich also Gehrisch begleite, versuche ich gar nicht erst, die vielen zugegebenermaßen spielerischen Aspekte seiner Erfahrung zu verstehen. Ich ziehe es vor, darüber zu sprechen, wie bestimmte psychische Situationen nicht anders als in Totschweigen oder einem Wimpernschlag, manchmal auch einem etwas schiefen Gedicht ausgedrückt werden können – eben so, insofern es ein Gedicht ist – ein Gespräch mit sich selbst, Poesie, und nicht ein mehr oder weniger geschicktes Zusammenbasteln von Versen, wenn wir nicht in uns selbst blicken, sondern in einen Spiegel. Die Seele ist das Schicksal, das Schicksal ist die Seele, sagte einst Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, ebenfalls ein Sachse (resp. Sachsen-Anhaltiner), Prosaiker und Dichter, gemeinhin bekannt als Novalis. Mit dem Wort Seele habe ich dennoch meine Mühe, da ich bei aller Demut vor der philosophischen Erfahrung der Deutschen eine erfahrungsgemäße Unterscheidung treffe, Dinge zu benennen, die dieser Erfahrung angemessen sind; „Seele“ als Begriff ist mit dem dicken Fett des Verbrechens überzogen. Vielleicht dem dicksten, weil sie selbst seit mehr als zwei Jahrtausenden von ihrer eigenen Sichtweise verurteilt und angewidert ist. Dies geht so weit, dass das Synonym „Psyche“, das sich weniger in die Religion hineingekrallt hat, analytisch klingt. Anstatt zu analysieren, ziehe ich es vor, einer Abneigung gegen die Vernunft Ausdruck zu verleihen.
Denn sonst (ver)sinken die Flüsse nicht. Sie taumeln nicht verzweifelt – von ihrem Gewicht immer tiefer gezogen – dorthin, wohin die menschliche Seele oder das Schicksal gehen sollte (oder nur gehen kann). Nach unten also, so dass die heraklitische Strömung jenes berührt, was eigentlich schon unbeweglich ist (in dieser Weise stigmatisierte Huxley die Bilder des Heiligen – als Unbewegtes). So ist der Weg in die Tiefe für Peter Gehrisch zunächst ein ebenso impulsiver wie vorsichtiger, getriebener wie beunruhigender Aufstieg entlang der Wand des schwarzen Brunnens zum Licht, ein Abschütteln des Giftes der Dunkelheit. Auf das Licht zu, obwohl wir noch nicht wissen, ob dieses Licht real ist oder von einem unsichtbaren Illusionisten geschaffen wurde. Gehrisch, geboren 1942, überlebte die Teppichangriffe auf Dresden. Das Armageddon. Das Verschwinden der Welt. Das Licht und die Helligkeit über den Stadtteilen im Elbbecken verkündeten die Hölle des Himmels, und die stickigen, stinkenden Keller der Bunker kündigten den Himmel der Gnade an. Das Verschwinden von Prinzipien, die sowohl die Physik als auch die Metaphysik betreffen. Der spätere Schriftsteller, Übersetzer von Norwid und Orpheus-„Gefolgsmann“, beobachtete diese Metamorphose der Realität, glücklicherweise ohne jegliche Vorurteile darüber, wie die Welt sein sollte. Was dabei herauskam, war eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Welt: Sein und Nicht-Sein.
Abgesehen von Gut und Böse als gegensätzliche Kategorien, die sich zum einen auf die Erkenntnis der moralischen Schwäche des Menschen im Allgemeinen und zum anderen auf deren Ausdruck in ihrem Verhalten stützen. Denn in der Erfahrung des Kindes sind sie zu einem einzigen Ganzen verdichtet und durchdringen einander. Fast wie in der mythischen Frucht des Guten und des Bösen – dieser eigentümlichen Dyade – sowohl böse als auch gut. Oder wie die männlichen und weiblichen Genitalien in den Zeichnungen von Hans Bellmer – geboren 1902: Er begrüßte den kollektiven Totentanz von Mitteleuropa im Alter von 12 Jahren.
Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Schrecken auch nach der Aufhebung der Bedrohung aus dem Reflex erwächst, alles von jetzt auf gleich neu zu benennen. Zwischen den Namen und den Bezeichnungen gähnt indessen ein Loch. Zusammen mit dem Heiligen, der Psyche und der Freiheit. Man lebt ja in einem Raum des Nicht-Seins, in etwas, das im Bruchteil einer Sekunde verschwunden ist – einer Stadt zum Beispiel, einem großen Gebäude, Möbeln und Geräten – eben noch waren sie da, und jetzt sitzt man neben seiner Mutter auf irgendeinem Bündel, ohne Dach über dem Kopf. Nun gut, wenn es denn ein Bahnhof wäre, von dem aus man irgendwohin fahren könnte. Langsam kommt der Gedanke auf, dass das Gute eben nicht hier ist, sondern weit weg, vielleicht sogar ein Pol in sich selbst, und dass diese Ferne mit etwas Dauerhafterem als einer Stadt (nach Spengler ist auch sie eine Seele – die Seele der Kultur) abgeschirmt sein sollte, oder einem Königsschloss oder... einer Eisenbahnstrecke: vielleicht mit Bergen herum. Denn es herrscht Angst. Ein verängstigtes Kind versteckt sich hier und nicht-hier. Peter Gehrisch weiß, dass „an allen Ecken der Kindheit die Kuriere der Angst“ stehen, bereit, sich in alle Richtungen zu stürzen. Je mehr Berge er also abdeckt, desto reiner das Gut. Je weniger Wege dorthin führen, desto reiner das Gute. Vereinfacht gesagt, kam das Kind in Dresden mit der Welt in fast vollem Umfang in Berührung, mit der Welt der Märchen und Mythen, mit der Welt der Träume, sogar mit der Welt der Träume aus Sand (Kinder lieben es, im Sand zu spielen, es ist in der Tat so narkotisch wie die Berührung des essentiellen weiblichen Körpers, denn symbolisch geht es um die Berührung der Seele oder des Ichs), und sah sie, wie es der gebürtige Sachse Andreas Altmann ebenso ausdrückte, eingebunden in Orpheus, für einen Moment „mit seinen ersten Augen“.
Daher der Glanz der Augen, die Seele, das Schicksal.
Wenn also ein Fluss fließt, die Elbe zum Beispiel, spielt die Sonne auf ihm wie auf einer zarten Saite mit Grün- und Blautönen – man kann sein Wasser trinken, sich darin waschen bis zur völligen Säuberung. In vielen Häusern brach nach der Bombardierung die Wasserversorgung zusammen, und die Mütter hielten sich während des Krieges sauber, vielleicht war sogar der Kampf gegen Schmutz, Läuse, schlammige Böden für die Mütter (jede Mutter symbolisiert die Anima, formt die Seele, das Schicksal) eine Prüfung für die Logik des Lebens und die Fähigkeit zum Rückwärtsgewandten. So mythisch wie die Schlacht an der Front. Ebenso absurd in dem Sinne, den Alice Miller oder James Hillman in der unnützen, nicht funktionalen und sogar verbotenen Tat erkannten: nämlich ihre Analogie zur Sprache des Traums zu sehen. Was der Mythos immer wieder hervorgehoben und zum Gebot erhoben hat, indem er Orpheus befahl, seine Seele zu verlieren, und die Zuhörer oder Zuschauer im Amphitheater aufforderte, in sich selbst zu fühlen: was es bedeutet, ohne Seele zu sein: eine notwendige Phase, eine Phase, die mit der Ionisierung eines bestimmten Atoms vergleichbar ist, wenn etwas es entlastet oder überlastet. Es entsteht ein Loch. Anstelle der Seele auch – ein Loch. Es entsteht eine Art Saugvakuum, ein Umstand, eine andere Materie ins eigene Ich aufzunehmen. Sie ist bereits durch ihren Charakter gekennzeichnet, eine Kombination aus Potenzen und Grenzen.
Ich möchte hier hinzufügen, dass das „Mutterfleisch der Seele“ auf einer symbolischen Ebene Eurydike und natürlich Eva ist, die beide von der symbolischen Schlange in die Erfahrung des Todes geführt wurden, und die beide Orpheus-Adam hineingezogen haben. Sie distanzieren den „Mann“ scheinbar von den Zweideutigkeiten der Zivilisation, also der Ordnung. Denn sie führen in den Krieg, also in die Hölle und die Umkehrung der Normen oder in das axiologische Negativ; der Krieg ist immer von einem Mythos begleitet. Hermes, der Führer, wird, wie wir feststellen, das weibliche Element sein – daher die Schuld des Erstgeborenen der biblischen Eva, der erstaunlichen Walküre, die durch die Entnahme aus Adams Innerem geschaffen wurde. Peter Gehrisch deckt auf, dass Eurydikes Seele eben noch Holz war und sich von Rinde und Fasern befreit hat, und weiterhin noch unfertig, weiterhin im Holz verweilend. Die Rippe verkörpert Adams innerstes Wesen, so geht er dorthin, wo der Verstand ihn verläßt und wo er Schrecken und Entsetzen, Wut und Geschrei erlebt, allein getrieben von dem, was in ihm ist – und was er bisher auf dem edenisch-pythagoreischen Boden sah, nur unter dem Gesichtspunkt von Nützlichkeit und Vergnügen. Ähnlich die hölzern erscheinende Eurydike, steif, hart, knarrend. Vielleicht struppig? Sie hörte Orpheus’ Musik. Ja, aber sie fühlte sich in der Berührung irgendwie verletzbar.
Und warum? Warum ist die mythische Frau, wie Paul Ricœur, der Pascal Quignard verteidigt, es brillant formulierte, „der privilegierte Ort des Zusammenstoßes von Verbot und Begehren? In der biblischen Geschichte veranschaulicht sie den Punkt der Hingabe, der Schwäche gegenüber dem Verführer“. Zu sich selbst führt also allein ihr Selbst, wie wir soeben festgestellt haben, die Seele. Wiederholen wir also die Frage: Wohin? Denn der Name „Hades“ bliebe eine flüchtige Allgemeinheit. Ricœur sagt, dass die Grate und die hölzernen Knochen und all die Rindenteile, die sie vor zärtlichen Berührungen schützt, auf die Seele von Orpheus und jeden von uns verweisen. Der Orphismus ist nicht erhaben oder künstlerisch veredelt, sondern legt die beschämende, geheime Wahrheit über Orpheus offen: Er ist die Anima der menschlichen Schwäche. „Diese Zerbrechlichkeit ist in der Endlichkeit des Menschen selbst begründet. Die menschliche Endlichkeit ist eine unbeständige Endlichkeit, die sich in eine ‘böse Unendlichkeit‘ verwandeln kann. Als ethische Endlichkeit ist sie ‚leicht‘ verführbar durch die Kurrumpierbarkeit der Etablierten, die die Grenze festlegen. Nicht die menschliche Libido ist der Anlass für den Sündenfall, sondern die Struktur der endlichen Freiheit.“ (Das Vorhandensein dieser Rinde, in welcher Leben ist, dieses Dickhäutigen, das die eigene Wahrheit bewahrt. Und in diesem Sinne wurde das Böse durch die Freiheit möglich gemacht.) „Die Frau illustriert den Punkt des geringsten Widerstands der endlichen Freiheit gegen den Ruf des bösen Unendlichen, gegen Pseudo“.
In den Kindertagen eines konkreten, realen Menschen tummelte sich alles, brummte vor Energie, und die Welt erzitterte. Die Löcher schienen zunächst nur Trichter zu sein, die durch den Einschlag von Bomben entstanden. Schließlich war der Fluss beladen mit Bomben, Leichen, Eisen und... hat Löcher, er sinkt tatsächlich, das ist keine Metapher. Er vergiftet und verschmutzt. Auch hier gilt: Es muss sauber gewaschen werden. Mit Seife und einer Bürste geschrubbt. Und Sand. Also glattgerollte Erde. Erde, die auch ein Symbol der Seele ist. Der Akt der Reinigung des Wassers (Seele und Leben symbolisierend) – durch die Berührung der auseinandergezerrten Psyche. Wer dies schon in der frühen Kindheit gespürt hat, sucht, solange er nicht grausam geworden ist, bereits nach einer Antwort auf die Frage, wer eigentlich zu diesem Licht hinaufsteigt – der Erwachsene, der sich des Preises bewusst ist, den man für die Kunst zahlt für den Sprung von einer Welt, die vorhanden ist, in eine Welt ohne Welt. Wer steigt also hinauf: Ist er es in diesem Moment, oder ist er es als Kind und obendrein gespalten in eine Art Ich und Ebenfalls-Ich, mit dem er gemeinsam, wie jenes Kind, in den Ruinen Himmel und Hölle spielte.
Himmel und Hölle aus Sand. Selbst die großen kollektiven Mythen und Herrlichkeiten sind schließlich aus Sand gemacht.
Blinde Tastorgane
Hier entlang
Zum geöffneten
Tor!
Immer in Richtung Schweigen
Zitternd
(...)
Der rückwärtsgerichtete Kreidepfeil
Von Kinderhand gezeichnet
Auf den geöffneten Flügeln des Tors
– eine Nuance: ein weißer Pfeil wie das Weiß, das (normalerweise) nicht mit den Fingern, sondern mit der ganzen Handfläche gezeichnet wird, wie eine Berührung, die viel intimer ist, oder wie ein Eid, der mit der Berührung der Muttererde abgelegt wird.
In allem, was Peter Gehrisch geschrieben hat und schreibt, geht es DARUM: Er lädt den Leser ein, auf seinem verschlungenen Weg zu wandern, auf dem an bestimmten Stellen eine Stimme zu hören ist: Bleib bei deinen vier und fünf Jahren! Das liegt auf der Hand. Wozu diese Eile? Wenn man sich in schwierigem Gebirgsgelände verirrt, ist es manchmal das Kind, das Hilfe bringt: irgendwie flink, weniger bedächtig und wahrscheinlich willensstärker; Erwachsene haben wirklich komplexe Motivationen, Hamlet ist überhaupt kein Außenseiter. Er ist auch keine Metapher.
Novalis formulierte es folgendermaßen: „Der Irrtum ist ein notwendiges Instrument der Wahrheit“. Pah, keines dieser inneren Kinder, die (noch) Himmel und Hölle (weiterhin) spielen, kennt keine einzige der seriösen Definitionen von Wahrheit und kann uns nur naiv am Arm packen: Was ist Wahrheit? Alles, was Peter Gehrisch schafft, ist ein Wischen mit verschwitzten Augen und einem Blick, der übrigens heiterer ist, als man denken könnte: Führt der Weg nach oben oder nach unten? Ist er beim Auf- oder Abstieg mit seinen Löchern auf Norwid gestoßen? Und auf Orpheus? In der Sammlung Zraniony słowem wers (Wortwunder Vers) von vor fast einem Vierteljahrhundert begegnet mir Gehrisch nahezu auf Schritt und Tritt und in jedem Satz, und es sind die schmierigen Pfade, die ich jeden Abend beschreite – „hier ist mein Platz“ – und eine Scheibe, eine Scheibe in einem verschleierten Werk. Die Erde ist vom Wahnsinn verbrannt. Das Papier welkt. Die menschlichen Gesten sind eine Pantomime unter glotzendem Rot. Ein Triumph-Tor aus Trümmern. Wir machen uns Treppenstufen aus Nebel. Man selbst ist eine Kette von Vögeln – keineswegs eine feste Masse, eine statische Form, eine reine Form, sondern nur ein Schlüssel, der instinktiv irgendwohin geht, vielleicht zu seinen eigenen psychischen Asymptoten, zu den Grenzen der erlebten Zeit.
Und es ertönt eine Stimme, uit – uit. Man ist wie ein Phallus, unklar suchend / Die Wölbung aus Grün: Es kann Ekstase sein oder aber eine schmerzhafte Grenze, Gehrisch würde sagen: Konversation mit Beton.
Oder vielleicht ein wahrhaft platonischer Dialog? Mit Beton als besonderem Material, denn er ist künstlich, im Zustand für die Zivilisation und gleichzeitig plump und brutal. Taub und doch für Konstruktionen verwendbar. Schließlich will der Mensch konstruieren. Bloße Pfeile und Wegweiser, Wortschöpfungen, Logos reichen ihm nicht aus. Mal hier, mal da, denn schließlich: ist man kein Individuum, sondern man ist eine Kette von Vögeln, eine Vielzahl von Glasperlen, die in der einen oder anderen Reihenfolge angeordnet sind. Einmal folgt unsere innere Eurydike-Eva der Schlange, ein andermal Orpheus-Adam. Orpheus scheint zu suggerieren, alles sei Schicksal oder Seele. Das Schicksal des Einzelnen veranschaulicht sprachlich soziale Phänomene vielleicht am deutlichsten. Und politisch. Die wir jedoch in statistischen und möglicherweise (streng) unpersönlichen Begriffen beschreiben: Es ist eine orphische Sünde, ohne Seele zu sein, ohne Schicksal, ohne Schmied des eigenen Schicksals, d.h. kein Alchimist zu sein, sondern nur zu Masse und Nigredo verdammt.
Aus Schlafsand war uns
Der Weg bereitet
Zum letzten Gehöft –
Hier habe ich nämlich eine Assoziation zu den Gedichten der interessanten Dichterin und Propagandaforscherin aus Kołobrzeg, Elżbieta Juszczak, die in einem etwas anderen, aber ebenfalls belebten Kosmos der Selbstfindung über ein Tor (was würdevoll klingt) gestolpert ist – zur Scheune. Peter Gehrisch klettert durch nebliges Flimmern wie über Sprossen zu ihr hinauf. Jede Sprosse ist ein Ausguck. Auf einer von ihnen ist der Krieg bereits zu Humus geworden, er schüttelt mit einer Granate, und die Monde sind nackte Totenschädel. Gottes Mühlen? – könnte man fragen. Doch die Mahlsteine sind zerfallen.
So sind uns also die Flügel
Gestutzt
Daß wir uns drehn
In grelle Mäntel gehüllt
Vor der eigenen Ödnis
Noch immer betäubt vom Rumpeln der Bomben, traf Peter Gehrisch irgendwo hier, in diesen Löchern– zum x-ten Mal betone ich es – auf Orpheus. Wie auf einen Ghoul.
Das Gespenst
Geht noch um
In der Bibliothek
Ein glänzender Hohlkopf:
Originalspuk (...)
Eine phosphoreszierende Morgenröte
Hager und gramvoll
Erscheint der Geist
Als Roter Ruben
oder der erwürgte
Säugling (...)
Medaillen und Ketten (...)
Solange sie über die Treppen
Klirren
Im eisigen Turm
Ist Winter (...)
Wenn der Mandelbaum blüht
Weichen die Wände.
Dann kann man sehen, obgleich das Labyrinth weiterhin dauert, dass das Leben gleich Mikrolabyrinthen als eine Schnur von Vögeln dahinfließt
Wie ein bacchantischer Tagtraum.
Ja, nur dass Orpheus’ Begegnung mit Dionysos eine Begegnung mit dessen Anima ist – sagt der Mythos –, von ebenso vielen wütenden Mänaden zerstückelt; auch sie ist keineswegs einheitlich, sondern gleicht einem Schwarm von Vögeln. Jede Mänade entreißt Orpheus eine Handvoll von Fleisch, jede, so glaube ich – das ist meine Intuition – erklärt Gehrischs Vers, dass sie dies tut:
Allem Vernomm’nen mit einer eignen Version zu begegnen
Halb Wahrheit, halb Schein.
Januar 2022
Anmerkung: Die Zitate zu Peter Gehrischs Gedichten entstammen den Publikationen „Zraniony słowem wers / Wortwunder Vers“, TIKKUN, Warschau 2001, und „Zawirowania dnia / Das Taumeln des Tages“, IBiS, Poezia dzisiaj, Warschau 2020.
Biogramm: Urszula Małgorzata Benka (geb. 1953 in Wrocław/Breslau) ist eine polnische Lyrikerin, Erzählerin, Essayistin und Übersetzerin französischer und englischer Literatur. 1992 Promotion zum Doktor der Polonistik. Arbeit als Redakteurin, Dozentin der Hochschule für Fotografie Afa in Warschau sowie an den Instituten für Kulturwissenschaft der Universitäten Wrocław und Zielona Góra (Grünberg). Publikationen: Prosa, Essays und Gedichte, u.a. Die Bestie und die Seele, Berlin und München 1997; Córka nocy (Tochter der Nacht), 1995; Kielich Orfeusza (Kelch des Orpheus), 2003; Pasja Józefa z Nazaretu (Die Passion des Josef von Nazareth), 2017.
Urszula Benka lebt in Wrocław.
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