Ist Anna Lipiak eine der besten Klavier-Interpretinnen der Romantik heute?
Diesen Samstagabend könnte man als „gelungen“ bezeichnen. Nach einem sonnigen, warmen Tag strömten die Besucher aus ihren Autos, ausgeschildert mit GR oder DZG, vor dem majestätischen Gebäude des Miejski Dom Kultury. An die treuen Kulturfreunde beiderseits der Neiße verschickten die Organisatoren einen Newsletter mit der Einladung zum Klavierkonzert von Anna Lipiak, einer jungen Pianistin aus Zgorzelec, die derzeit auf Weltkarriere steht. Die sehr gutaussehende junge Frau zierte das Plakat des Konzerts, das unter dem Titel „Ewige Liebe“ stand. "Der Bürgermeister von Zgorzelec und das Kulturhaus (Dom Kultury) laden Sie zum Valentinstagskonzert ein". Das Plakat zeigte auch das Programm des Konzerts: Chopin, Robert und Clara Schumann stand drauf, also Romantik pur zum Valentinstag. Eine Pianistin in ihrer Heimat, der Bürgermeister lädt höchstpersönlich ein, freier Eintritt und sonniger Tag! perfekte Voraussetzung für einen wunderbaren Musikabend.
Dazu kommt noch der Hintergrund einer monatelangen Pandemie, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben auf der deutschen Seite der Neiße völlig lahmgelegt hat. Die wenigen Veranstaltungen laufen immer noch unter 3G, 2G oder 2G+, die verkomplizieren, spalten und verängstigen das Publikum in einem Konzert, das eigentlich eine Flucht aus der Traurigkeit des Alltags bieten sollte. Kein Wunder, dass so viele Görlitzer Dom Kultury strömten. Man erkannte eine Dankbarkeit, eine lang ersehnte Freude in den Gesichtern. Du hast Menschen wiedererkannt, die du lange nicht gesehen hast: Freundinnen, die seit 5 Jahren aus den Augen verschwunden waren. Freude, Herzlichkeit, lang vergessen geglaubte menschliche Gefühle, all das konnte man wieder erleben. Es ist so wichtig für die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden, an solchen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Kultur ist Leben, ist Gesundheit!
Daher ist mein Dank an den Bürgermeister der Stadt und an die Organisatoren im Dom Kultury sehr groß! Aber der größte Dank gilt der Künstlerin, die nach zwei Jahren Lockdown und Pause frisch, lächelnd, voller Elan und Energie auf die Bühne kommt.
Die kleine Bühne im Veranstaltungsraum wurde einfach mit der grünen Farbe der Hoffnung beleuchtet. Mitten auf der Bühne steht der Kawai-Flügel mit der schönen brillanten Klangfarbe bereit. Die letzten Nachzügler kommen noch rein, der Saal ist voll (bei geringem Abstand zwischen den Stühlen waren ca. 150 Gäste im Saal). Es ist 17:01 Uhr und Beata Zygmuntowicz eröffnet den Abend mit ein paar schönen, intensiven Sätzen. Sie erzählt, wie jeder in der Stadt dieses Mädchen liebt, wie warmherzig sie ist. Hinter mir sitzen Lehrer der Musikschule ihrer Ausbildungsstadt: Sie erzählen, wie das begeisterte Mädchen damals den ganzen Tag Klavier spielte, und abends, wenn alle nach Hause gingen aber in der Schule noch Klaviermusik ertönte, wusste man: Das war Anna.
Genau diese Anna, die nun mit ihrem roten Kleid auf der grünen Bühne erschien. In der Tat herzlich, jugendlich, lächelnd, mit Eleganz und Bewegungen, die einen tiefen Respekt vor ihrem Publikum und ihrem Instrument und Musik verraten. Sie verbeugt sich mit der demütigen Würde eines Stars und greift zum Mikrofon. Die Angewohnheit, Konzerte mit klassischer Musik zu moderieren, ist eine schöne Tradition in Polen, und vielleicht einer der Gründe, warum diese Konzerte hier so gut besucht sind: Im Publikum sieht man eine breite Palette von Menschen, jung und alt, Rocker sitzen neben uns, vor uns einfache Volksfrauen. Menschen, die nicht wissen, wer Schumann ist, wer Clara Schumann-Wieck ist, die sicher noch nie ihre Sonate gehört haben, nie die Fantasie in C-Dur. Anna erzählt die Geschichte hinter jedem Stück, verschönert die Erzählung mit biografischen Informationen aus dem Leben und der Persönlichkeit der Komponisten, aber auch mit ihrer eigenen Geschichte beim Einstudieren dieser Musik. Die schwierigen Passagen, die Geheimnisse hinter den Melodien. Es macht sicherlich alles interessanter und zieht uns alle mit auf die Reise, bereitet unsere Ohren vor und weckt unsere Herzen. Die "Dame in Rot" ist einfach hinreißend, noch bevor sie auf dem Instrument sitzt. Aber dann setzt sie sich und beginnt zu spielen.
Die Auswahl der Stücke ist wirklich gut gemacht. Am Anfang erkennt man sofort eine bekannte Melodie. Es ist das berühmte „Reigen der Seligen Geister“ aus Glucks "Orfeo", in einer Klaviertranskription von Giovanni Sgambati. Es war einfach genial, mit Orfeo das Konzert über „Ewige Liebe“ zu beginnen. Einige von uns, die es verstanden haben, haben bereits Tränen in den Augen. Guter Start!
Als nächstes Stück wählt die Pianistin ein Nocturne von Chopin. Sie erklärt, warum sie diese Wahl getroffen hat. Zwei Stimmen duellieren sich im Nocturne Op.55 No.2 und erzählen vom Leiden einer unerfüllten Liebe im Leben des großen polnischen Komponisten.
Anna Lipiak spielt das Nocturne mit Eleganz und Lyrik, in die Melodie versunken, ohne Eile vermittelt sie die Melancholie, aber auch die Hoffnung der Liebe. Das ist eine Chopin-Versteherin wie wenige!
Aber was nach dem Nocturne folgt, war definitiv der Höhepunkt des Abends. Die Fantasie in C-Dur von Robert Schumann. Anna Lipiak bereitet das Publikum liebevoll auf dieses Stück vor. Sie erzählt von der schwierigen Liebesgeschichte zwischen Robert und Clara Schumann, die das Schaffen der beiden Komponisten so stark beeinflusst hat. Wir verstehen, dass dieses Werk für Sie etwas ganz Besonderes ist. Sie traut sich sogar, die drei Teile zu trennen und vor jedem Teil etwas mehr zu erzählen. Über die Emotionen des ersten Teils, die Form eines Siegeszugs des zweiten Teils und dann die geheimnisvolle unerwartete Traumwelt des dritten Teils. Sie führt uns in die Seele des Komponisten, den sie liebt. Sie gibt es sogar zu: Sie versteht sehr gut die Zerrissenheit zwischen Freud und Leid in Schumanns Musik, eine seelische Dimension, die zu seiner Schizophrenie geführt hat.
So klang der erste Teil „Durchaus fantastisch und leidenschaftlich vorzutragen; Im Legenden-Ton“ verträumt, brillant und bezaubernd. Viele von uns haben die Hand eines Lebensgefährten ergriffen und über die Bedeutung der Liebe in unserem ansonsten schwierigen Leben nachgedacht. Aber Anna spielt den zweiten Teil „Mäßig. Durchaus energisch“ anders. Mit einer Kraft, Heldenhaftigkeit und Entschlossenheit, die der banale Zuhörer sonst nur von einem männlichen Pianisten erwarten würde, interpretiert die Pianistin wie eine seltene Kennerin der Schumann-Seele. Das Bravourstück umfasst eine Passage von 32 Takten, die zu den schwierigsten der Klavierliteratur gehören. Sie bereitete das Publikum perfekt darauf vor. Umso begeisterter war der Applaus, wenn die Pianistin das schwierige Stück bravourös, mit Leidenschaft und Souveränität vollendet. Aber dann kommt der dritte Teil der Fantasie: eine Träumerei, in der Anna die weibliche Seite des Romantikers ebenso perfekt zum Ausdruck bringt wie die männliche Seite des vorherigen Stücks. Die schöne Fantasie endet in langen, sehnsüchtigen Farben, leise. Das träumende Publikum wartet einige Sekunden, bevor es dankbar und gerührt applaudiert.
Doch die Pianistin verletzte sich beim leidenschaftlichen Spielen am Finger. Also muss sie eine fünfminütige Pause ankündigen, um den Finger mit einem Pflaster zu versorgen. Der richtige Zeitpunkt für das dankbare Publikum, Eindrücke mit Freunden auszutauschen. Das Valentinstagskonzert hat viele Herzen näher gebracht, das spürt man in der Luft.
Anna Lipiak kehrt zurück und spielt das letzte Stück des Abends, die Sonate in g-Moll von Clara Schumann-Wieck. Die Pianistin spielte dieses Stück in einem Konzert in Leipzig zum 200. Geburtstag des Komponistin im Jahr 2019. Sie hatte das Glück, bei dieser Gelegenheit sogar das Nachkommen der Familie Schumann kennenzulernen, erzählt sie.
Die Musik von Clara Schumann ist, wie die vieler anderer Komponistinnen, wenig bekannt. Zu Unrecht: Der Verdienst dieser bedeutenden Frau, die nicht umsonst den einstigen 100-Mark-Schein zierte, ist enorm! Sie ist eine wunderbare Komponistin und es ist höchste Zeit, sie zu entdecken und in die Konzertprogramme aufzunehmen. Es ist toll, dass die polnische Pianistin Werke von Clara Schumann in ihr Repertoire aufnimmt. Die vier Teile der Sonate sind voller Virtuosität, aber auch Romantik, schöner Melodien und harmonischem Reichtum. Anna spielte und ich dachte dabei an die Ähnlichkeiten zwischen der Pianistin und Schumann-Interpretin Clara und der heutigen Anna, die ebenfalls mit einem Pianisten und Ihrem Klaviercouch verheiratet ist und auch viele Konzerte mit ihm spielt.
Was ich damit sagen will: Das Klavier ist wie kein anderes das Instrument der Romantik. Und Anna Lipiak ist, als käme sie aus jener Zeit, der Zeit, als virtuose Frauen und Männer die Welt bereisten und das Publikum mit Virtuosität und Melodien begeisterten. Ohne Zweifel ist Anna eine der treffendsten Interpretinnen der Romantik, die man sich wünschen kann. Und diese Musik bringt sie nicht nur mit ihren Schumann- oder Chopin-Partituren auf Reisen durch die Welt, sondern auch durch die digitale Welt. Mit einer Großzügigkeit und Offenheit teilt sie ihre Liebe zum Klavier über ihre sozialen Medien durch Videos auf Facebook und Instagram mit Millionen von Menschen.
Eine Herzensdame.
Brava Anna und danke dir vom Herzen für dieses Konzert: ein Balsam in Zeiten einer traurigen Pandemie.
Anna Lipiak "Ewige Liebe" (Wieczna Miłość): Recital im Miejski Dom Kultury w Zgorzelcu am 12.Februar um 17:00 Uhr.
Comments