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Anna Teichmüller im Riesengebirge


Riesengebirge in Schreiberhau (Foto: Anna Danielska)

Kann auch ein Gebirge die Rolle einer Muse übernehmen für Schriftsteller, Maler, Philosophen und Musiker, als eine nie versiegende Inspirationsquelle, voll von Geheimnissen und ewigen Wahrheiten?

Das Riesengebirge war in der Tat lange Zeit eine Muse für empfindsame Gemüter, sowohl vor als auch nach 1945. Die Landschaft verspricht dem Künstler Ruhe und Ausgeglichenheit und weckt den Wunsch, sich in Mitten der unberührten Natur für immer niederzulassen.

So hat das Gebirge nicht nur die Naturforscher der „Oberlausitzer Akademie der Wissenschaften“ magisch angezogen, sondern auch zahlreiche Maler wie Caspar David Friedrich, Carl Ernst Morgenstern oder Hermann Hendrich; Ebenso Künstler wie die Gebrüder Hauptmann, Henry Mackay und Otto Müller, um nur wenige davon zu nennen. Im Buch „Die imposante Landschaft: Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20.Jh“ (Berlin & Jelenia Góra 1999) werden die Portraits vieler dieser bemerkenswerten Menschen von gestern bis heute vorgestellt.

Der Krieg und die daraus resultierende Grenzverschiebung brachte es mit sich, dass das Riesengebirge heute in Polen liegt, aber das änderte nichts an der Attraktivität der Region. Weiter lebten dort Künstler wie z.B. der Maler Vlastimil Hoffman in Scheiberhau, der englische Schriftsteller George Bidwell oder der Komponist Ludomir Rozycki in Przesieka (damals Hain), nicht zu vergessen der Theatermacher Henryk Tomaszewki in Karpacz (Krümmhübel). Und auch heute leben viele Künstler dort, die teilweise aus der ganzen Welt kommen. Das uralte Gebirge wird wahrscheinlich auch in Zukunft immer ein Zufluchtsort für solche Schöngeister bleiben.




Die Künstlerkolonien um 1900

Johanna Lotte Hauptmann, Carl Hauptmann, Wilhelm Bölsche, Martha Hauptmann, Eckart Hauptmann, 1904

Jost Hermann schreibt in der „imposanten Landschaft“, dass die Idee der Künstlerkolonien aus dem utopischen Ideal einer „Gelehrtenrepublik“ von Klopstock hervorgegangen ist, also den Träumen der Menschen zur Zeit der Aufklärung, die eine bessere, freiere Welt unter Mitwirkung von Künstlern und Wissenschaftlern propagierten. Unter diesem Ideal begegneten sich um 1780 Künstler aus ganz Europa in Rom. Die Stadt war aber auch schon viel früher ein Anziehungspunkt für Künstler aus ganz Europa gewesen, die der Verehrung der Ideale aus der Antike anhingen. Das 16. Jahrhundert war die Zeit des Kardinal Barberini und der „Accademia dell´Arcadia“, wo sich Künstler, Wissenschaftler und Politiker wie Händel und Antonia Maria Walpurgis begegneten und sich über Musik, Dichtung und Theater austauschten. Sie träumten von einer Rückkehr zu den Idealen des antiken Arkadien, einer Umgebung, wo allein die Natur die oberste Herrscherin ist und wo Menschen zusammenleben und schaffen im Zeichen der Freiheit und der Liebe.


Gruppe in Reformkleidung nach Käthe Woywood im Riesengebirge, 1927 (aus "Imposante Landschaft")

Der Landstrich Arkadien auf dem Peloponnes weist viel Ähnlichkeit mit der Landschaft des Riesengebirges auf. In der mythischen Region Griechenlands entstanden jene Geschichten und Dramen, in denen sich Menschen und „Götter“ auf Augenhöhe begegnen. Auch im Riesengebirge ist die spezifische, schlesische Mystik noch heute omnipräsent. Andrzej Boj Woitowicz malt seine eindrucksvollen, sakralen Bilder sichtbar unter ihrem Einfluß und Ryszard Dembinski baut liebevoll unter der von ihm kunstvoll mit Engelsmotiven bemalten Decke seiner Werkstatt Saiteninstrumente nach historischen Vorlagen. Die Engelsgestalten des Malers Avenarius schmücken auch die prachtvolle Paradieshalle in der Villa Wiesenstein in Agnetendorf, der ehemaligen Villa des großen Schriftstellers (und Mystikers) Gerhart Hauptmann. War das zeitlos Metaphysische unbewusst aus dem Wunsch zum Widerstand gegen den herrschenden Zeitgeist entstanden? Besonders in Perioden von Unruhen, Umbrüchen und Chaos ziehen sich Künstler gern in die Natur zurück: Dort ist Gottes Nähe leichter zu spüren und man lässt Überflüssiges und Hinderliches hinter sich. Tatsächlich zählten die Künstler einer als „arkadisch“ verstandenen Kolonie selten zur Avantgarde. Ich würde sie aber auch nicht „konservativ“ nennen. Ihre Kunst beinhaltet sowohl etwas „immer Junges“ als auch „ewig Altes“ - ich würde sie einfach unter „Neoklassik“ einordnen. Eine wie frühlingshaft immer wiederkehrende, neue Kraft, stets aber begleitet auch von einer Rückbesinnung auf die alten Wurzeln wie Erde, Heimat, das einfache Volk und seine Sagen und Musik, seine Brauchtümer und Symbole. Viele von diesen Elementen erkenne ich auch in der Dichtung von Carl Hauptmann und der Musik von Anna Teichmüller.



Leo Clemens, Katarzyna Wasiak und Eleni Ioannidou während der Aufnahmen im Schloss Wernersdorf (Februar 2020)

Anna Teichmüller und ich

Vieles, was vor dem zweiten Weltkrieg unseren Kulturraum geprägt hat, lag für lange Zeit im Dornröschen-Schlaf. Heute ist eine neue Generation in Europa unterwegs, die sich für „Lost Places“ begeistert, über Ruinen und Landschaften staunt und sich für den teilweise vergessenen, kulturellen Reichtum Europas interessiert. Die alten Mauern, die vergilbten Manuskripte in den Bibliotheken der Universitäten und Klöster zeugen nicht nur von verloren gegangener Kunstfertigkeit und Schönheitsidealen, sondern enthalten oft auch geheimnisvolle Botschaften aus alten Zeiten.

Für uns junge Menschen heutzutage ist es ein Glück und eine Herausforderung, das kulturelle Erbe einer Region neu entdecken zu können, Schätze, die Jahrhunderte vor uns

von Künstlern, Denkern und Herrschern hinterlassen worden sind in einer Region, die viele unterschiedliche Ethnien beherbergt hat. Über die Jahrhunderte entwickelte sich der „Geist“ Schlesiens, die geheimnisvolle Mystik, die Traditionen, die Liebe zur Natur und den Ahnen, die Religionsphilosopie, all dies trug dazu bei, den Begriff „Preussisches Arkadien“ zu prägen. Hier lebten Angelus Silesius, Christian Wolff, Jakob Böhme, Martin Opiz, Andreas Gryphius, Joseph von Eichendorff und zahlreiche weitere Dichter und Philosophen wie Gerhart und Carl Hauptmann. Viele Namen und Werke dieser endlosen Reihe von Künstlern sind längst vergessen worden oder verloren gegangen.

Ballade von A.Teichmüller gewidmet an Otto Müller

Selbst wenn man diese Wertschätzung des Alten als „konservativ“ bezeichnen mag - es geht um den unverwechselbaren Charakter Schlesiens, der auch für mich, im Grunde eine Progressive, absolut schützenswert ist.



Entsprechend erstaunt war ich dennoch, als mir die ersten Notenschriften der Musik von Anna Teichmüller in die Hände fielen. Mir war schnell klar, dass diese nahezu unbekannten Kompositionen etwas Besonderes sind! Es war 2018 als ich erfuhr, dass sich Frau Marta Filipowska von der Universität Breslau mit der Person der Komponistin beschäftigte und ihre Doktorarbeit über jene Komponistin vorbereitete, die 1861 in Göttingen geboren wurde, die ab 1908 in Schreiberhau (heute Szklarska Poreba) gewohnt hat und 1940 dort auch gestorben ist.

Unser Verein beschäftigte sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Projekt „Gerhart und Carl Hauptmann wiederentdecken“ - ein Zeitraum, während dem ziemlich viele „Zufälle“ aufgetreten sind, besser gesagt etwas, das C.G. Jung einst als „Synchronizitäten“ bezeichnet hat. Während einer Tagung über Hauptmann in Breslau lernte ich Sven Alexis Fischer kennen, einen Verwandten der Komponistin, der in Braunschweig lebt und sich seit vielen Jahren mit dem geistigem Erbe Annas beschäftigt. So erschloss sich mir die faszinierende Geschichte der tiefen, platonischen Freundschaft zwischen Anna Teichmüller und Carl Hauptmann, die sich gegenseitig Quelle für künstlerische Inspiration gewesen sind. Die Schönheit des Riesengebirges, die Mythen und Märchen der Volksgruppen, die dort lebten, Fabelwesen wie Rübezahl, Nixen und Elfen verwoben sich vor meinen Augen mit der Geschichte einer nahezu vergessenen, damals blühenden Kolonie der Maler, Dichter und Philosophen und machte mir in großer Deutlichkeit bewußt, dass ich unbedingt etwas unternehmen muss, um Anna Teichmüllers Werk aus der Anonymität und Vergessenheit zu holen.

Die zu Weihnachten im Jahr 1900 erschienene Sammlung von Gedichten und Prosa von Carl Hauptmann unter dem Titel „Aus meinem Tagebuch“ ist Anna Teichmüller gewidmet und war auch die Quelle der meisten lyrischen Texte, die sie vertont hat. Wir wollten das Buch ins Polnische übersetzen und neu herausgeben, fanden aber keine finanzielle Förderung für dieses Vorhaben. Einfacher war es, mit ein paar Musikern Konzerte zu organisieren. So erklangen schon im Herbst 2018 zum ersten Mal die Lieder von Anna und Carl in Buchenwald, gefördert von der Kulturreferentin für Schlesien im Schlesischen Museum zu Görlitz.


Heinz Müller, Leo Clemens und Kasia Wasiak während der Aufnahmen im Barocksaal des Schlosses Wernersdorf

Als nächstes haben wir uns entschlossen, zusammen mit der Pianistin Katarzyna Wasiak, die diese ersten Konzerte begleitete, Tonaufnahmen von den Liedern herzustellen (eine absolute Premiere!) und eine CD zu produzieren. Im Februar 2020 schliesslich konnten wir im schönen Barocksaal des Schlosshotels Wernersdorf (Palac Pakoszow) Annas Musik aufnehmen. Die Eigentümer, das Ehepaar Hartmann, hat uns zusammen mit dem Verein für den Erhalt Schlesischen Kunst und Kultur (VSK) als Sponsoren den kostenlosen Aufenthalt für ein Wochenende im schönem Schloss ermöglicht. Mit Blick auf ein verschneites Riesengebirge und die Burg Kynast haben wir zu den Klängen des Steinway Flügels der Familie Hartmann soviel Lieder aufgenommen, wie uns in diesem Zeitraum möglich war. Die Auswahl fiel uns nicht leicht. Neben den Liedern haben wir zusammen mit dem Geiger Leo Clemens auch noch ein interessantes Stück aus der Kammermusik der Komponistin aufgenommen: Die „kleine Suite für Geige und Klavier“. Allen Förderern und Begleitern dieser musikalischen Unternehmung möchten die Künstler an dieser Stelle nochmals von ganzem Herzen Dank sagen!

Im Jahr 2020 gedenkt man dem achtzigsten Todestag Anna Teichmüllers. Anlässlich dieser Gelegenheit widmen wir unsere Aufnahmen der damaligen Generation von Künstlern, die ihre Muse und Zuflucht hier im Riesengebirge fanden. Nicht zuletzt auch den heutigen Künstlern dort, deren Werke immer noch das Lied der Natur singen und ein friedlichen Zusammenleben propagieren.

Anna Teichmüller (aus "Die imposante Landschaft")

Die Komponistin

Annas Mutter war Anna von Cramer, Tochter eines estnischen Grundbesitzers. Sie und Annas Vater, Gustav Teichmüller, haben sich in St. Petersburg kennengelernt, wo er als Lehrer an einem Gymnasium gearbeitet hat. Gustav Teichmüller war Professor der Philosophie und zog oft mit der Familie um, auf der Suche nach einer geeigneten Anstellung. So war er in Göttingen zwischen 1860 und 1868 als Privatdozent an der Univsersität tätig, wo am 11. Mai 1861 Anna geboren wurde und ein Jahr später auch ihre Schwester Lina. Die Mutter der Mädchen ist sehr jung verstorben. Gustav Teichmüllers Forschungs- und Fachgebiet war eine Mischung aus griechischer Philosophie, Religion und Metaphysik. Er erntete viel Anerkennung als Professor erst in Basel und dann an der Universität in Dorpat in Estonien, damals Russland, wo eine deutsch-sprachige Universität existierte. Die estnische Hafenstadt blieb bis zum Tod des Vaters im Jahr 1988 der Wohnort der Familie, dort sind auch ihre weiteren sechs Geschwister zur Welt gekommen. Gustav Teichmüller hinterließ ein bedeutendes schriftliches Werk; Diesen umfangreichen Nachlass hat Anna bis zum Ende ihres Lebens in Schreiberhau behütet und gepflegt. Heute befindet sich Gustav Teichmüllers Werk sowie seine und Annas Korrespondenz in der Basler Universitätsbibliothek.

Annas Vater, wie man ihn von seinen Schriften her beurteilen kann, war ein echter Humanist. Kein Wunder also, dass sich seine Tochter frei entfalten konnte in einer Zeit, in der Frauen nur wenig Freiheiten zugestanden wurden. Wenn sie, von Dornpat aus, Reisen nach Deutschland, in die Schweiz und nach Frankreich unternimmt, besucht sie Museen, Konzertsäle, nimmt Gesangsunterricht (wie bei Sophie Plehn in Berlin, deren natürlichen Umgang mit ihrer Stimme sie schätzte), besucht Opern und wohnt Gesangs-Abenden der Sängerin Schulzen von Asten oder Liturgien in der Synagoge bei. Dennoch bleibt es fraglich, ob sie während dieser Reisen auch Klavier- oder Kompositionsunterricht nahm. Damals war es nicht einfach für eine Frau, diese Laufbahn zu wählen, da viele Dozenten es ablehnten, Frauen zu unterrichten. Die beiden Tanten von Anna, Olga und Emilia, unterhielten in St.Petersburg ein Musikzimmer. Dort traf man sich oft im Kreise der Familie und sang Lieder: Die schöne Bassstimme ihres Vaters entzückte sie, wie sie später schrieb. Tante Emilia unterrichtete auch Gesang und in so einer freien und unkonventionellen Umgebung vollzog sich ein großer Teil der Musikausbildung Annas.


Gustav Teichmüller (1832-1888)

Das philosophische Erbe der Jahrhundertwende, das eine Rückbesinnung war auf die Werte der Liebe, der Freiheit und der Macht der Natur, der christlichen Mystik, die griechische Kultur und die Suche nach allem, das hinter unserer sichtbaren Welt existiert (Metaphysik) übernimmt die Tochter vom Vater und vereint dies mit ihrer musikalischen Begabung. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1888 heiratet ihre Stiefmutter Lina Cramer, Schwester der früh verstorbenen Mutter, erneut und zieht von Dorpat nach Jena um. In dieser Stadt, die schon schon seit Schillers Zeiten die Heimat von Dichtern, Intellektuellen und Idealisten war, lernt Anna den Dichter Carl Hauptmann kennen und schliesst mit ihm eine tiefe geistige Freundschaft, wie eine umfangreiche Briefkorrespondenz bezeugt. Er bewunderte das Klavierspiel von Anna sehr und nannte sie seine „Liederbraut“. Als Carl Hauptmann und sein Bruder im Jahr 1897 ins Riesengebirge ziehen, wo sie in Schreiberhau ein Haus kaufen, sammelt sich um sie langsam ein Kreis von Intellektuellen und Künstlern, die sich in dieser herrlichen, stillen Naturkulisse ihren Idealen und ihrer Kunst widmen. Bald zieht Gerhart in seine neuerbaute Villa Wiesenstein im nahe liegenden Agnetendorf. Carl bleibt in seinem einfachen, zweigeschossiges Bauernhaus in Schreiberhau und lädt immer wieder Freunde zu sich, die er aus Berlin, Jena und Zürich kannte; Viele von ihnen begeistern sich für die Region und siedeln sich ebenfalls dort an. Carl lädt auch seine Anna im Jahr 1900 nach Schreiberhau ein und auch sie lässt sich bald dort nieder, wo sie bis zu ihrem Tode lebt. Anna freundete sich auch mit Martha an, der ersten Ehefrau von Carl, und widmet ihr einige ihrer Lieder. Die beiden Künstler Anna und Carl feierten am selben Tag ihre Geburtstage und verstanden sich als Seelenverwandte im Leben und der Kunst.

„Du, mein lieber Herzensfreund, du hast eine Sprache wie die Musik und die Natur. Deshalb liebe ich dich auch so. Mehr wie all die anderen Menschen. Du bist ein Mächtiger und führst die Seele wohin du willst.“

Anna Teichmüller und Carl Hauptmann ("Imposante Landschaft")

Carl liebte die Musik, er fand in Annas Klavierspiel eine Inspirationsquelle auch für sein Schreiben. Anna fand ihrerseits in Carl einen philosophisch gebildeten Gesprächspartner, der ihr den verstorbenen Vater ersetzte. Die „Seele“ war ein zentraler Begriff im Schaffen der beiden (oder der drei). Wie in der Mythologie, wo es Orpheus gelingt, mit seinem Gesang Euridice - die Seele - aus der Umarmung des Todes zu befreien, widmet sich auch Anna, wie viele Komponisten der Zeit, dem Lied, der musikalischen Form der Dichtung, begleitet mit Klavier. Tatsächlich besteht der grösste Teil ihres kompositorischen Schaffens aus Liedern. Ausser den Gedichten von Carl vertont sie Rilke, Anakreon, chinesische und indische Lyrik sowie zahlreiche andere Dichter der Zeit und vertont sogar Volkslieder. Nebenbei hat sie einen „Ostergesang op.6 für Klavier, Soli und Chor“ (Text von Carl Hauptmann), eine „Missa poetica“ (verschollen), und die ebenfalls verschollene Oper „Nal und Demajanti“ komponiert, die auf einer esthischen Volksage basiert, darüber hinaus auch Klaviermusik und Kammermusik wie z.B. die „Kleine Suite für Violine und Klavier“ die auch auf unserer CD zu hören ist.

Nach dem Tod der Eltern wird Anna von ihren Tanten aus dem Erbe der von Cramers unterstützt, aber auch nach der russischen Revolution und Enteignung bleibt sie gelassen. Sie gibt in Schreiberhau Musikunterricht für Kinder („Sieben einfache Klavierstücke“) und schreibt Musik, die sie im Dreililien-Verlag des Schwagers von Gerhart Hauptmann, dem Komponisten Max Marschalk, veröffentlicht. Die Kritiker, die der Uraufführung ihrer Messe in Berlin beigewohnt haben, waren der Komponistin nicht sehr freundlich gesonnen, dennoch folgt sie unbeirrt weiterhin ihrer Berufung als Künstlerin in Schreiberhau.


Grabstein von Carl Hauptmann (von Hans Poelzig und Marlene Moeschke)

Carl Hauptmann stirbt im Jahr 1921. Sie bleibt weiter in Schreiberhau und arbeitet als Lehrerin in einer Schule. Bei kleinen Musikveranstaltungen (Cottbus, Schweidniz) werden ihre Werke gespielt, oft begleitet sie bei Solokonzerten am Klavier, Martha Hauptmann die singt. Dem Ende ihres Lebens zu, widmet sie sich zunehmend dem Nachlass des Vaters und vernachlässigt ihr kompositorisches Talent. Sie hat eine Wohnung im „Christlichen Kinderheim von Donath“ (heute Hotel Szklarka, ul.11 listopada 18,) wo sie im Jahr 1940 am 6. September stirbt. Sie wird in Schreiberhau begraben.


In das kleine, ehemalige Bauernhaus von Carl Hauptmann (ul. 11 listopada 23), dort wo Anna damals vermutlich oft spielte, haben wir (dank einer Förderung vom Sächsischen Ministerium des Innern) einen kleinen Salonflügel gestellt, wo sich nun regelmässig Künstler treffen und wieder Musik machen können. Die Leiterin des Museums Frau Bozena Danielska, die großen Wert auf die Erforschung der ehemaligen Künstlerkolonie im Riesengebirge legt sowie auch auf die Unterstützung der heute dort wieder entstehenden Künstlerkolonie, begrüßte und begleitete unsere Aktion mit Liebe und förderte uns wo sie konnte, organisierte die Kammerkonzerte, lud Gäste ein und bewirtete sie mit Getränken und Snacks. Die Konzerte sind stets bei freiem Eintritt und langsam beginnen die Bewohner von Schreiberhau, sie zu lieben. Besonders unvergesslich ist uns ein Weihnachtskonzert geblieben, bei dem wir zusammen mit dem Publikum lauthals die Weihnachtslieder von Anna sangen. In allen Sprachen. Es war ein wundervoller Moment, in dem der Geist der Künstler von damals wieder spürbar wurde.


aus dem Buch "Imposante Landschaft"
Anna Teichmüller (aus die "Imposante Landschaft")

Das baltische Fräulein von Schreiberhau

Magdalena Malorny (Nachbarin von G.Hauptmann in Agnetendorf) zum Tod von Anna Teichmüller


„Wir sollen unser Schicksal tragen und nicht schleppen“

War es Ahnung? War es Prophetie? Wir alle wissen, was fünf Jahre später geschah. Und es waren diese letzten Worte, die in mir nachklangen, als ich mich im Sommer 1940 von Anna Teichmüller verabschiedet hatte und langsam den Rückweg von Schreiberhau nach Agnetendorf beschritt - wie träumend - denn es klang noch mehr in mir nach. Und war immer so. Immer ging man innerlich reich beschenkt von ihr fort. Daß es damals das letzte Mal war, ahnte ich nicht. Oder doch - weil man Herz so schwer war?

Anna Teichmüller - geboren 11.5.1861, gestorben 6.9.1940 - war ein wunderbarer Mensch! Äusserst sensitiv. Es waren so wenig Worte nötig, sie erfühlte sofort, wie der Mensch war, der vor ihr stand, wenn er von derselben Art war. Dem nur realen, „Nur-Geld-Menschen“ gegenüber war sie hilflos und die Unterlegene. Aber gerade diese Unterlegenheit erhöhte ihren inneren Wert.

Sie war die Güte und Selbstlosigkeit und Duldsamkeit in Person und über ihrem Leben stand flammend das Wort: „Liebe“! Aus dieser Liebe heraus lebte sie und gab verschwenderisch von den Gaben, mit denen Gott sie so reich gesegnet hatte. Sie komponierte, sang, begleitete sich selbst und andere auf dem Flügel, dichtete, malte, schrieb herrliche Briefe und kannte noch das „echte Gespräch“. Es muss ein Genuss gewesen sein, diese Künstlerin mit dem philosophischen Wissen (Erbe des Vaters) zuzuhören, wenn sie mit Künstlern, Wissenschaftlern und Gleichgesinnten zusammen war.

Das Gepräge gab ihr die Atmosphäre des Gelehrtenhauses in Dorpat, wo sie aufgewachsen war. Ihr Vater, Staatsrat Gustav Teichmüller, war Professor für Religionsphilosophie an der Universität der Stadt. Ihre Mutter entstammte einem alteingesessenen deutsch-baltischen Adelsgeschlecht, war ein zarter, empfindsame Mensch, von rascher Aufnahmefähigkeit und gutem Einfühlungsvermögen. Nach dem frühen Tode ihrer Mutter, der ihr den ersten tiefen Schmerz verursachte, heiratete Gustav Teichmüller die Schwester seiner ersten Frau, die mit ihrer tiefen Güte und warmherzigen Mütterlichkeit diese ersten Herzenswunden des Kindes Anna heilte. Liebe, Güte, Wissen und eine hohe Kultur legten den Grund zur Formung des Charakters, der Geistes- und Kunstausrichtung Anna Teichmüllers.

Von ihren Reisen erzählte Anna Teichmüller mir, und wie sie in Jena dem Ehepaar Carl Hauptmann begegnet sei, und wie aus dieser Begegnung eine tiefe Freundschaft wurde. Wie diese Freundschaft und die Liebe zur Natur sie bewogen, sich im Riesengebirge, in der Nähe des Hauptmannhauses, eine neue Heimat und ein Heim zu schaffen. Ein Musikzimmer, eine reiche Bibliothek, gewählte Bilder bekannter Künstler, darin lebte und arbeitete Anna Teichmüller, empfing sie ihre Freunde und bedeutende Wissenschaftler. - Und es war ein befruchtendes und geselliges Leben in diesem gastfreien Hause. Carl Hauptmann las ihr seine Gedichte, sie hörte, beurteilte - und Carl Hauptmann gab ihr viel auf ihr sicheres Urteil - und sie ließ sich inspirieren von dem einen oder anderen und vertonte so manches seiner Gedichte. Ein altes Bild in meinem Besitz zeigt Anna Teichmüller am Flügel stehend, im Hause Carl Hauptmanns mit dem Maler Otto Müller und seiner Frau, mit Carl und Martha Hauptmann und Schwester Lotte Hauptmann. Mit Carl Hauptmann, dem Dichter-Philosophen, verband sie, die Philosophentochter, eine besonders fruchtbare Freundschaft, es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen und Anregen zum bestem geistigen und künstlerischen Schaffen.

Als es Anni Teichmüller geldlich schlechter ging, behielt sie dennoch ihre königliche Unabhängigkeit. Konnte sie ihre reiche Gastlichkeit nicht mehr üben, so taten es eine Tasse Kräutertee und ein Paar kleine Kuchen - mit Liebe gereicht und mit Geist gewürzt - genauso gut. Sie hatte ja mehr und besseres zu bieten, sie musizierte, las meisterhaft vor - oder regte an durch die Fülle ihrer Gedanken und Interessen. So lebte sie beglückt und andere beglückend durch die höchsten Güter des Lebens: Der Religion, Kunst und Wissenschaft, durchdrungen und gekrönt von echter tiefe Menschenliebe - sie blieb in ihrer späteren Armut unabhängig vom Geld und Geldeswert und lebte äusserst bescheiden bis zu ihrem Tod.

Wald im Riesengebirge (Foto: Aleksandra Bujalska)

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