Heute möchte ich die Reihe um Caspar David Friedrich und Lord Byron umbenennen: Aus „Wanderer“ werden sie zu „Pilger“, was eigentlich keinen großen Unterschied macht. Und ich möchte auch einige weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Romantikern erläutern, die mir gestern beim Lesen aufgefallen sind. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass es Ähnlichkeiten zwischen dem Einzelgänger Friedrich und dem Libertin Byron geben könnte. Und doch täuscht der Schein. Zwischen einem der bedeutendsten Dichter und einem der bedeutendsten Maler der Romantik – es gibt tiefgreifende Schnittpunkte, von denen ich einige bereits in früheren Beiträgen beschrieben habe (Meilenstein und Klosterruine). Hier die neuen Erkenntnisse zum Thema „Kreuz, Natur, Liebe“.
Die Bücher, die ich gerade lese, sind: Erstens das wunderbare „Portrait Byrons“, geschrieben von Leslie Marchand aus dem Jahr 1970. Zweitens zwei Bücher aus dem Ostblock: das kleine Büchlein, das 1974 in Polen zum 150. Todestag von Byron veröffentlicht wurde, mit Gedichtübersetzungen und einem wunderbaren Vorwort des Schriftstellers und Übersetzers Juliusz Żuławski. Das zweite ist eine 1968 in Berlin erschienene Sammlung von Schriften von Caspar David Friedrich (Briefe, Gedichte etc.), herausgegeben von Sigrid Hinz, die auch eine wunderschön geschriebene Einführung in das Leben des Malers verfasst. Der Henschelverlag ist ein auf Kunst spezialisierter Verlag, der 1945 in (Ost-)Berlin gegründet wurde. Bei dieser Gelegenheit habe ich das Bedürfnis, die Bücher der Ostblock-Verlage zu loben und sie gegen alle Vorurteile zu verteidigen (angeblich war alles in Osteuropa unter dem Einfluss der Sowjetunion schlecht).
Im Gegenteil: Man merkt, wie die Intellektuellen des Ostblocks in den Romantikern Gleichgesinnte fanden und deren Motive manchmal leichter verstehen als westliche Intellektuelle. Es ist auch die Tatsache, dass zu dieser Zeit der Osten (Dresden, Polen, Griechenland) Schauplatz der Revolutionen war, deren Ideen, obwohl im Westen geboren, ihren größten Einfluss und ihre größte Ausprägung im Osten fanden.
Sigrid Hinz beschreibt folgend die Gründe für das Erscheinen der Romantik in Europa. Auffallend ist, dass diese Bewegung in England beginnt, aber gerade in Deutschland sich verbreitet und aufblüht (Seite 6):
"Caspar David Friedrichs Name ist auf das innigste mit der Romantik verknüpft. Sein Werk ist ein Ausdruck der folgenschweren Zeit des Aufbruchs um 1800. Die romantische Kunstbewegung hatte in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts ihren Ausgang in England genommen und erfaßte außer Deutschland, wo sie vorwiegend von bürgerlichen Kräften getragen wurde, die Niederlande, Skandinavien, Frankreich und einige osteuropäische Länder. Die konfliktbeladenen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Übergangsperiode vom Zunfthandwerk zur kapitalistischen Manufaktur und im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen waren die wesentlichen Uraschen dieser national unterschiedlich geprägten Strömung, in der sich eher weltanschauliche Bekenntnisse äussern als neue Stileigentümlichkeiten. Ohne einen eigenen Formenapparat steht die romantische Kunst zwischen dem Klassizismus des ausgehenden 18. und dem Realismus des 19.Jahrhunderts. Traditionelle Formen wurden von ihr weiter- oder wiederverwendet. ihre betont auf nationale Traditionen gerichtete Kunsttheorie förderte mit einigen Thesen eine neue realistische Kunstauffassung. Das Gefühl der Entfremdung des Menschen vor seiner Umwelt durchzieht alle Werke der deutschen Romantik. Die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verlorengegangene Harmonie suchten die Künstler durch pantheistische Versenkung in die Natur wiederzufinden. (...) Die vielschiechtige und in sich widerspruchsvolle deutsche Romantik ist der geistige Ausdruck eines äusserst bewegten gesellschaftlichen Hintergrundes, der skizziert wird durch die zurückgebliebenen ökonomischen und die konservierten feudalabsolutistischen Verhältnisse, durch die nationale Befreiungsbewegung, einige vom Beispiel der Französischen Revolution ausgelöste Reformbestrebungen und verzweifelte Ansätze offener klassenkämpferischer Aktionen während der Restaurationsperiode."
Und weiter zum Thema der christilischen Symbolen in der Malerei Friedrichs:
"Trotz seiner Gemälde mir Darstellungen von Kirchenruinen und Visionen der christlichen Kirche verfiel Friedrich nicht der Idealisierung des Mittelalters wie die zwar ebenfalls gegen höfischen Zopf und Akademismus angetretenen Lukasbrüder, deren theologische Orthodoxie und künstlerische Sterilität gerade er mit aller Schärfe angegriffen hat. Ebenso fremd war ihm die beidermeierhafte Problemlosigkeit der Spätromantik. Seine antirestaurative Gesinnung und der bürgerlich-humanistische Gehalt einer Kunst hatten zur Folge, dass Caspar David Friedrich mit der wachsenden Überlegenheit der Reaktion immer mehr in die Isolation geriet und sein Schaffen aus dem Gespräch kam. (...) In einem Schreiben an Ernst Moritz Arndt aus dem Jahre 1814, dass durch die Polizeizensur gegangen ist, heißt es: << Ich wundere mich keineswegs, daß keine Denkmäler errichtet werden, weder die, duo die große Sache des Volkes bezeichnen, noch die hochherzigen Taten einzelner deutscher Männer. Solange wir Fürstenknechte bleiben, wird auch nie etwas Großes der Art geschehen. Wo das Volk keine Stimme hat, wird dem Volk auch nicht erlaubt, sich zu fühlen und zu ehren."
Und gleich dann:
"Das protestantische Bekenntnis des Elternhauses und das Weltbild des Theologen Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten, der mit Friedrichs erstem Zeichenlehrer Quistorp befreundet war und der auch e entschiedenen Einfluss auf Philipp Otto Runge gewann, bildeten die Grundlagen der Weltsicht des Künstlers. Kosegarten stand der Philosophie Herders und SSchellings sowie den Theorien der englischen Senusalisten nahe. Seiner Feder entstammen umfangreiche Übersetzungen englischer Lyrik und Schriften zu ästhetischen Fragen. Die insbesondere während der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunterts bedeutsame Ausstrahulung der Philosophie, Literatur und Gartenkunst Englands auf Deutschland ist vor allem durch Herder und im norddeutschen Bereich hautsächlich durch Kosegarten and den ebenfalls in Greifswald wirkenden Proffesorr Thorild gefördert worden. Friedrichs Naturgefühl wird also nicht zuletzt aus der ossianischen Naturbegeisterung abzuleiten sein. Weitere Quellen öffneten sich ihm mit seiner Niederlassung in Dresden, wo die bestimmenden Ideen der Frühromantik bereits in Gespräch waren, als er 1798 dort eintraf. Hier kam der Maler zu der Überzeugung,
"daß die Kunst aus dem Innern des Menschen hervorgehen muß, ja von seinem sittlich religiösen Wert abhängt... Denn wie nur ein reiner, ungetrübter Spiegel ein reines Bild wiedergeben kann, so kann auch nur einer reinen Seele ein wahrhaftiges Kunstwerk hervorgehen."
Jedoch war Friedrichs religiöses Bekenntnis nicht unbedingt christlich-dogmatisch gebunden. Vielmehr erinnert es an Herders <<archaischen Protestantismus>>. Friedrich sah wie Runge, dass schon seine Zeit <<am Rande aller Religionen>> stand, wenn er, eines seiner Gemälde erläuternd, sagt: << die Zeit der Herrlichkeit des Tempels und seiner Diener ist dahin und aus dem zertrümmerten Ganzen eine andere Zeit und anderes Verlangen nach Klarheit und Wahrheit hervorgegangen>>. (...) <<Die einzig wahre Quelle der Kunst ist unser Herz, die Sprache eines reinen kindlichen Gemütes. Ein Gebilde, so nicht aus diesem Borne entsprungen, kann nur Künstelei sein>>."
Nach dieser Lesung aus der Einleitung von Sigrid Hinze noch ein kleines Zitat aus Byrons Leben. Im Jahr 1816, nach der Trennung von Annabella Milbanke, die Byrons Ruf in der Londoner Gesellschaft erschütterte, begann sein moralisch fragwürdiger Lebensstil bekannt zu werden.
Augusta, seine Halbschwester, hielt bis zum Schluss an seiner Seite. Sie verstand ihn besser als jeder andere (war es die Seele oder die DNA ihres gemeinsamen ebenso fragwürdigen Vaters?). Andererseits finde ich, dass Byrons „Amoralität“, wie sie sich in seinen zahlreichen sexuellen Beziehungen zu verheirateten Frauen, seiner Promiskuität im Allgemeinen, seine Liebschaften mit Jungen und Mädchen, mit seiner Schwester, mit Männer usw. ausdrückt und in seinem unmöglichen Verhalten während der Ehe gipfelte, aus der Sicht des Philosophen, wie ich mich selbst sehe, ganz anders zu interpretieren ist als es die Gesellschaft tut.
Der Dichter, der Revolutionär, der Romantiker, der Künstler überhaupt ist ein „Narr“, dem man Freiheiten zugestehen muss und kann. Anstelle von „Narr“ können wir auch „Kind“ schreiben (wie Caspar David Friedrich es verstand). Denn der Künstler kann – mit dieser Freiheit – der Welt Wahrheiten erklären, so wie ein Kind in Andersens Märchen „der König ist nackt“ schreit. Man muss diesen Menschen Freiheit gewähren, auch wenn es weh tut: die Gesellschaft könnte den Schmerz ertragen im Glauben dass „Dein Wille geschehe“ – weil niemand weiß, was wir daraus lernen sollen? Die christliche Philosophie, im Kreuz und Auferstehung ein Symbol findend, ist wahrscheinlich der Grund, warum wir in Europa eine soziale, künstlerische und wissenschaftliche Entwicklung haben. Wir lassen zu, Freigeister uns über eine neue Sicht der Realität, zu unterrichten, wir erlauben neue Erkenntnisse der Wissenschaft und schauen begeistert Neues in der Kunst, auch wenn am Anfang reagieren wir mit Skandal. So wie bei Prometheus, der nichts mehr gemacht hat als den Menschen eine neue Dimension des Denkens und Leben beizubringen.
Byrons Amoralität kann auch psychologische Gründe haben, etwa die Enttäuschung seines hohen Liebesideals während seiner ersten (oder allen) Beziehungen zu Frauen, oder eine Korruption der Seele durch seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Männer oder das Beispiel seiner eigenen Eltern, das spielt keine Rolle. Was in seinem sexuellen Leben wichtig erscheint, sind Begriffe wie „Liebe“ und „Freiheit“. Byron ist bereit, allen, die ihn lieben, mit Liebe zu erwidern. Er liebt alle Frauen, die in ihn verliebt sind. Dieser Triumph der „Liebe“ in der absoluten Freiheit ist eigentlich eine Revolution (ähnlich wie in 1968), wir finden es bei vielen Romantikern die gesellschaftlichen Zwänge verachteten. Was ist denn schlimmer? wenn eine Frau aus sozialen Gründen, wegen Geld oder familiären Bindungen heiratet oder wenn sie verliebt ist?
Don Juan, der zur Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution so dämonisiert wurde, ist insgesamt leichter zu verstehen, wenn man Lord Byron versteht. „Viva la liberta“ und sein dionysisches Baccanale mit Frauen, Wein und Partys empfindet man beim Blick auf das Romantische ganz anders als das Mozart tut mit „Questo é il fin di chi fa mal“ („Das ist das Ende derer, die Böses tun“ (Don Giovanni)...
Dieser dionysische Aspekt ist die Quintessenz der Revolution, und Dionysos war auch ein Gott, der Gott des Weins, und sein Altar war eine Theaterbühne.
An Ostern 1816, nach dieser Katastrophe im Byrons Leben, der Trennung von seiner Frau, traf Schwester Augusta ihren Bruder zum letzten Mal. Sie gibt ihm dann eine Bibel, die er seitdem bei sich trägt. Byron, der nicht religiös war. Der wahrscheinlich Religion wie Caspar David Friedrich empfand (Abneigung gegen die Institution und ihre Diener, Zuneigung zum Symbol). Ein Herz, das sich nach Wahrheit sehnt. Wir haben die Begriffe „Liebe“ und „Kreuz“ , die beiden Symbole, in denen sich die Romantiker zurechtfanden.
Augusta wusste genau, warum sie ihm zu Ostern die Bibel schenkte. Sie empfand das Kreuz – und die darauffolgende Auferstehung – als Heilung für ihren Bruder, der aufgrund seines eigenen Charakters auch sehr gelitten hatte. Das Kreuz würde sein Weg sein, sagte das Herz der Schwester.
Byron wurde nun bewusster zum Pilger ...
Aber schließen wir diesen Beitrag mit der letzten „Strophe an Augusta“, die Byron in diesem Jahr schreibt, um seiner Schwester seinen Dank auszudrücken. Wie eine Agathe im Werber´schen Freischütz zu Max, vom romantisch-christlichen Idealismus beseelt („Und ob die Wolke sie verhüllt, die Sonne scheint am Himmel“), bis zum Schluss an ihrem „verführten“ Bruder festhält.
Hier die letzte der sechs Stanzas to Augusta:
"From the wreck of the past, which hath perish'd,
Thus much I at least may recall,
It hath taught me that what I most cherish'd
Deserved to be dearest of all:
In the desert a fountain is springing,
In the wide waste there still is a tree,
And a bird in the solitude singing,
Which speaks to my spirit of thee."
Aus dem Wrack der Vergangenheit, die untergegangen ist,
So viel kann ich mich wenigstens erinnern,
Es zeigt mir dass, was ich am meisten schätze
Es verdient hat, der Allerliebste zu sein:
In der Wüste entspringt eine Quelle,
Im weiten Ödnis steht noch ein Baum,
Und ein Vogel singt in der Einsamkeit,
Was zu meinem Geist von dir spricht.
Fazit: Das Kreuz wird in der Romantik nicht als rein religiöses Symbol verstanden, sondern als philosophisches Leitsymbol, das Katharsis und Wiedergeburt verspricht. Mit allem, was die Kreuzigung von Jesi bedeutet, die gesamte Geschichte der Passion und der Auferstehung für Menschen, die in das Christentum eingeweiht sind. „Liebe“ ist in der Geschichte von Jesi von grundlegender Bedeutung: die Bereitschaft, sich aus Liebe zu opfern, um einem höheren Willen zu dienen und so die Welt zu „retten“ – wie ein Held es tun würde.
Auf den unteren Fotos: ein Kreuz, das ich in der Ruine der St.Georg-Kirche im nicht entfernten Msciszów gestellt habe. Rosen und Rotes Kreuz auf weissen Hintergrund, so feiert man traditionell in England St.Georgs (Patron Englands) Tag am 23.April. Links die Klosterruine der Magdalenen in Nowogrodziec, das Denkmal das wir am nächsten zu sanieren möchten (Stiftung "Dein Erbe"). Dort wo ich sehr gerne das Theaterstück Byrons "Werner oder das Erbe" aufführen würde.
Comments